Mit Gewalt auf der Suche nach dem Paradies

Patrick Wagner und Helen Henfling stecken in einem Dilemma. Nach neun Singles in sechs Jahren, veröffentlichen sie mit ihrer Band Gewalt ein Album, vom dem sie selber lange gedacht hatten, sie würden es nie machen. Aber dann ergab eines das andere, und statt der wie ursprünglich geplanten zehnten Single entstand, zu ihrer eigenen Überraschung, ein ganzes Album. Zum Zeitpunkt unseres Gespräches steht es kurz vor der Veröffentlichung, was sich zum einen absurd anfühlt („Wir haben ja noch nicht einmal das fertige Produkt gesehen,“ sagt Helen), zum anderen für reichlich Kopfzerbrechen sorgt. Denn wenn man Musik macht, dann will man auch, dass sie gehört wird, und genau das bereitet den beiden Sorgen. 

Natürlich ist kreativ sein für sich eine tolle Sache und für den Moment auch erfüllend, aber was bringt das am Ende, wenn nichts davon da draußen ankommt? Das Veröffentlichen von Musik funktioniert nicht ohne das Bedienen gewisser Systeme, auch wenn man es selbst in die Hand nimmt oder, wie im Fall von Gewalt, mithilfe eines überschaubaren Indie-Labels wie Clouds Hill, auf dem letzte Woche das offizielle Gewalt-Debüt „Paradies“ erschienen ist. Patrick Wagner kennt diese Systeme zur Genüge. In den neunziger Jahren prägte er mit dem Label Kitty-Yo die Musikszene der Hauptstadt entscheidend mit und machte es weit über Berlin hinaus bekannt. Nach einem Jahr bei Universal Music gründete er sein eigenes Label, mit dem er sechs Jahre später pleite ging. Desillusionierung ist ohne Frage eine treibende Kraft hinter Gewalt, sie fußt auf Wagners persönlichen wie beruflichen Erfahrungen, privaten und geschäftlichen Krisen und der damit einhergehenden Frage, was das Ganze eigentlich soll. Um dem Phänomen des Scheiterns sein Stigma zu nehmen, rief er vor fünf Jahren die Fuck Up Nights ins Leben, eine Veranstaltungsreihe, in der Unternehmer*innen verschiedenster Gewerke offen über ihre beruflichen Misserfolge sprechen. Von der Angst, dass das erste Album von Gewalt, in das er, seine Partnerin Helen Henfling und Bassistin Jasmin Rilke so viel Herzblut gesteckt haben, im Wust hunderter wöchentlicher Releases untergehen könnte, befreien ihn nachvollziehbar weder seine vergangenen Erfahrungen noch sein offener Umgang mit ihnen. „Ich bin zu allen unerträglich im Moment“, stöhnt er über seinem Kaffee. Kurz darauf nimmt er meine Hand und hält sie lange gedrückt, als wir darüber sprechen, wie mein Vater im letzten Jahr an Corona gestorben ist. 

Ich hatte meine erste Begegnung mit Gewalt, als das Trio im Jahr 2018 überraschend im Vorprogramm von Jack White bei seiner Deutschlandtournee auftrat und mit seiner Performance, gelinde gesagt, für Irritationen sorgte. Ein sich drehendes Blaulicht, ein Gewitter aus technoiden Beats, krachenden Gitarren und wütende, deutschsprachige Texten, das war selbst so manchem sich total progressiv fühlenden Rockfan zu viel. Ich persönlich fühlte mich sofort positiv an meine erste Zeit in Berlin vor mehr als zwanzig Jahren erinnert, als Acts wie Atari Teenage Riot, Cobra Killer, Peaches und Chilly Gonzales (damals noch als Rapper im Ballonseide-Trainingsanzug) in muffigen Kellerclubs zu wilden, oft spontanen Electro-Clash-Parties einluden. In meiner Erinnerung ist es im Berlin der frühen 2000er gefühlt immer dunkel, das Leben spielt sich hauptsächlich in der Nacht ab, die Tage ein winterlich grauer Taumel zwischen dieser und der nächsten Party. Das sind Erinnerungen, die mich nachhaltig geprägt haben, was das Finden meiner Identität und meines Platzes (nicht nur) in Berlin angeht. Entsprechend reagiere ich auf dieses „Faust ins Gesicht“ Gefühl, das Gewalt sowohl mit ihrer Musik als auch ihrer Performance transportieren, uneingeschränkt positiv. Ich komme besser damit klar, wenn jemand mir schonungslos aufzeigt, wo die Probleme liegen. Die Ehrlichkeit, mit der Gewalt unserer Gesellschaft den Spiegel vorhalten, beruhigt mich auf eine absurde Art. Ich habe grundsätzlich nicht das Bedürfnis mich einlullen zu lassen, mich der Illusion hinzugeben, dass der morgendliche Kaffee mit Herzchen im Milchschaum, das schönste Alpenpanorama, der perfekte Abend mit Freunden, mein Leben definieren, und das auch erst, wenn ich es allen anderen auf Instagram mitgeteilt habe. Erst kürzlich hat jemand mir den Terminus „Toxic Positivity“ nahegebracht, und dass es dafür inzwischen einen eigenen Begriff gibt, hat mich wirklich fertig gemacht – für die Verlogenheit, mit der wir in den sozialen Medien uns gegenseitig (oder auch uns selbst?) weismachen wollen, wie gut es uns doch geht, während die Welt doch eigentlich am Arsch ist. 

Vielleicht ist das der Grund, warum ich Patrick und Helen ganz gut fühlen kann, als wir zusammen an einem Tisch sitzen, die beiden sich etwas grunderschüttert an ihren Kaffeetassen festhalten und sich ganz offen und ehrlich Gedanken darüber machen, wie sie ihr „Baby“ nun unter die Leute kriegen. Es geschaffen zu haben ist großartig, aber es ist ja nicht das Ende der Fahnenstange. „Einerseits steckt man total viel Energie rein, dann denkt man auch, jetzt muss doch was passieren,“ sagt Helen. „Dann gibt es wieder einen Rückschlag und man regt sich darüber auf, von wegen: ich hab doch voll viel rein gesteckt, jetzt kommt da wieder nichts. Es gibt nie so ein Mittelding, wo man einfach denkt: passt.“ „Und jetzt ist da dieser Markt,“ fügt Patrick hinzu. „Da fängt es an: es gibt kein Vinyl mehr. Es gibt keine Medien mehr, es gibt keine sozialen Medien mehr. Es gibt nur gekaufte Reichweite oder nicht gekaufte Reichweite. In dieser Maschine jetzt sitzen zu müssen, oder eben zu sagen, es ist komplett irrelevant – das finde ich ultra unangenehm, das stresst mich persönlich total. Wenn nichts passiert, rege ich mich auf, wenn was passiert, rege ich mich auch auf. Ich habe mir meine eigene Hölle geschaffen.“ 

Gewalt haben sich Aufmerksamkeit in den letzten Jahren zum einen über ihre Liveshows, aber dadurch, dass die Band immer alles impulsiv nach Gefühl selbst gemacht hat, auch über ihre eigene Social Media Präsenz generiert. Sie wurde immer selbst gepflegt, ohne sich dabei Gedanken über Algorithmen zu machen. Aber so etwas wie natürliche Reichweite gibt es inzwischen kaum mehr. „Du erreichst niemanden mehr, wenn du nicht dafür bezahlst“, sagt er. „Du kannst es posten, du kannst es aber auch lassen. Wir haben eine Google-Ad für unser Video erstellt und ich dachte: Alter, jetzt verdient Google an Gewalt Geld. Das ist schon kranker Scheiß. Da arbeitet du fünf Tage an so nem Video, schon mit ein bisschen Budget aber im Prinzip for free, und dann gibst du das Geld Google.“ Der Algorithmus, wo man mit muss, das Individuum versus Big Tech, keine Kunst ohne Geld – und das mitten in einer globalen Pandemie. „In der größten Krise der Welt sind überall Börsenhöchststände. Das Geld hat sich entkoppelt von der Welt, vom Menschen und läuft nur noch auf zehn einzelne Punkte zu. Da kann man schon das Gefühl bekommen, das muss jetzt abgeschafft werden. Weil es nicht mehr gemacht ist für Menschen. Wie beim Monopoly – der eine bleibt am Ende übrig, und alle anderen sind tot.“

Das Medienecho der letzten Tage gibt Grund zur Hoffnung, dass all diese Sorgen berechtigt, aber hoffentlich auch ein Stück weit unbegründet sind. Man kann sich schon erlauben so weit auszuholen, dass Gewalt zurzeit ohne Frage eine der spannendsten Bands Deutschlands ist. „Paradies“ ist ein wahres Biest, düster, böse, textlich wie musikalisch, aber auch auf eine ganz erstaunliche Weise poppig, tanzbar, funky möchte man gar sagen. Dadurch entwickelt es eine regelrecht befreiende Wirkung auf seine Hörer*innen – man kann 42 Minuten lang die Welt scheiße finden und trotzdem tanzen. Denn, und das ist vielleicht das Entscheidende an Gewalt, das, was die Anziehungskraft der Band ausmacht: es geht dabei auch stets um Empathie. Der Wut auf die Welt steht das Bedürfnis gegenüber, sie zu ändern. Gewalt ist in diesem Fall nicht gleich Aggression, die sich von sich selbst und den Mitmenschen abgelöst hat und nur noch für sich selbst agiert, wie die Kids, die sich bei einem Konzert von Rapper Travis Scott gegenseitig tottrampeln und auf den Dächern der Krankenwägen tanzen, während diese versuchen, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen und den Verletzten zu helfen. Die titelgebende Suche nach dem Paradies ist für Patrick ein nahezu entwaffnend ernst gemeintes Anliegen. „Wo finde ich denn das Glück? Wo ist es denn? Dann kann ich vielleicht genau hingucken und mich nicht nur vor Netflix setzen. Dafür stehen wir. Was finden wir denn noch an uns, wenn wir so limitiert sind wie wir sind? Deswegen auch ‚Paradies‘. Das heißt wir können uns ein Paradies schaffen.“

Nur, wie macht man das? Und zwar auf eine ehrliche Weise, ohne sich selbst Mantra-artig immer wieder zu versichern, dass es einem gerade doch voll gut geht, während der Rest der Welt knietief in der Scheiße steht? Ich habe während der Pandemie angefangen, exzessiv Kundalini-Yoga zu üben, eine Form des Yoga, die in der Kombination aus extremer körperlicher Auslastung und Entspannung eine totale Entleerung des Kopfes und damit eine Befreiung des Geistes anstrebt. Wir kommen im Gespräch darauf, weil die repetitive Energie des Titelstücks „Paradies“ mich an diese Form der Moving Meditation erinnert. Bewusstseinserweiterung mit Gewalt, sozusagen. Patrick hingegen glaubt, dass der Schlüssel zum Glück ein viel naheliegender ist, den wir nur immer mehr vergessen zu nutzen. „Man muss sich klar machen, dass wir eigentlich Leute sind, die für ihre Familien da sein sollten, die für ihre Ernährung sorgen sollten, die für ein Dach überm Kopf sorgen sollten, die eigentlich eine echte, wertvolle Beschäftigung haben sollten, die sie erfüllt und ihr Leben ausfüllt. Stattdessen machen wir so Kram, um den Kopf frei zu kriegen. In Deutschland wird immer die Familie hochgehalten, aber die Realität ist, dass die Menschen die Krise kriegen, wenn im Lockdown ihre Kinder Zuhause sind. What’s the problem? Du verbringst Zeit mit deinen Kindern! Als würden wir 24 Stunden am Tag arbeiten und alles wäre super wichtig.“

Und wo finden Gewalt selbst einen Moment von, sagen wir, Glück? Ich mag mir einfach nicht vorstellen, dass Patrick Wagner sich dauerhaft in seiner selbst gebauten Hölle befindet. Er überlegt einen Moment, aber dann findet er doch eine Antwort. „Was uns glücklich gemacht hat war, das zu machen. Es gab da diese komische Energie, von wegen alles fügt sich von alleine zusammen. Wir haben so aufgenommen, dass wir das Gefühl hatten, die Platte entsteht irgendwie von alleine. Wir sind ja auch nicht mit dem Vorsatz ins Studio gegangen. Wir wollten zwei Singles machen, haben dann aber gemerkt, dass es mehr wird. Das ‚Mehr‘ wurde ein Album, dann gab es die Idee, machen wir doch gleich ein Doppelalbum und ein Buch dazu. Alles ist so komisch von alleine passiert.“ Und Helen, nicht weniger nachdenklich, schließt einen Moment später an: „Ob das glücklich macht, das kann man jetzt noch nicht so richtig sagen. Oft merkt man Dinge erst im Nachhinein.“

Die Corona Situation macht uns das mit dem persönlichen Glück leider nicht einfacher. Sie ist im Prinzip das globale Äquivalent zu dem Vergrößerungsglas, mit dem Gewalt die Gesellschaft beobachten. Spaltung ist aktuell ein täglich diskutiertes Thema, und darüber, dass die Krise der letzten zwei Jahre nicht unbedingt das Beste in den Menschen zum Vorschein gebracht hat, sind Helen, Patrick und ich uns auch einig. „Was uns verbindet, ist unsere Gier“, singt er im Eröffnungsstück von Paradies, und es ist erschreckend simpel wie einleuchtend. „Gier ist das einzige, das die Leute verbindet. Selbst hinter angeblich noblen Beweggründen steckt der Gedanke: ‚was bringt mir das‘. Das war während der Corona-Krise wirklich shocking. Alles ist nochmal aggressiver geworden, die Leute sind noch unnachgiebiger geworden. Da sitzt plötzlich in der Bahn eine Frau neben dir, die du Typ mäßig eher als Grünen-Wählerin verortest, um die 50, die hat keine Maske auf und guckt dich mit diesem Blick an: ‚Sag was! Ein Ton und ich hab meinen Text schon parat! Ich bin eine Bombe, die bereit ist hochzugehen, in jeder Sekunde.‘ Dem ist man plötzlich so ausgesetzt, in einfachsten Situationen.“

Man könnte aus diesem Gespräch mit dem Gefühl herausgehen, dass die Welt am Ende ist und es keine Hoffnung gibt. Aber manchmal reicht es schon, die Absurdität des Moments anzuerkennen, um einen Schritt weiterzukommen. „Darum geht es bei Gewalt. Dass man in dieser Welt lebt und sich immer seltsamer vorkommt,“ bringt Patrick es nach mehr als einer Stunde auf den Punkt. Und wenn alle Stricke reißen, tanzen kann man wie gesagt immer. So viel Banalität kann man sich bei all der Härte schon erlauben. 

„Paradies“ von Gewalt ist am 5. November 2021 digital bei Clouds Hill erschienen. Die wirklich abartig schöne Vinyl-Doppelbox inklusive Buch erscheint im Dezember und kann hier vorbestellt werden.

Foto © Magnus Winter