Die Welt muss schon komisch aussehen, wenn man Anfang 20 ist. Alles so klein und immer dieser Rand drum. Gut, der Einsatz von Smartphones zur Dokumentation auf Konzerten ist kein neues Phänomen. Aber wenn man sich auf einer Show im Schnitt gute 20 Jahre über dem Altersdurchschnitt befindet, kann man trotzdem ins Staunen geraten. So zum Beispiel beim Konzert von Lorde letztes Wochenende im Berliner Tempodrom. Kaum erlischt das Licht, schnellen (unübertrieben) tausende von Handys in die Höhe. Plötzlich ist es gar nicht mehr so leicht einen Platz in der Menge zu finden, von wo aus man das Geschehen auf der Bühne nicht nur noch durch die Snapchat Maske des Handys vor einem sieht. Vom obligatorischen Erinnerungsfoto ist die jüngere Generation offensichtlich längst abgekommen. Heute geht es darum, möglichst viele Videosequenzen in Echtzeit an seine Follower zu übertragen. Das ist Schwerstarbeit!
Ich möchte hier wirklich nicht einen auf mimimi machen. Eins meiner Kinder ist bald selbst in dem Alter und besitzt ebenfalls ein Smartphone. Noch ist das Gerät bei ihr nicht zu einem Fortsatz ihres Körpers geworden und ich hoffe sehr, dass das noch eine Weile so bleibt. Man kann noch so aufgeschlossen gegenüber derartigen kulturellen Entwicklungen sein, es lässt sich einfach nicht leugnen, dass es irgendwie traurig ist. Das Gefühl was es bedeutet, im Moment zu sein, etwas zu genießen, sich voll und ganz in die Atmosphäre eines Augenblicks zu werfen, das kommt immer mehr abhanden. Und mal ganz davon abgesehen: es stört Leute wie mich, die mit eigenen Augen und ohne Filter sehen wollen was auf der Bühne passiert, einfach ungemein.
Jack White zum Beispiel ließ nereits 2014 bei seinen Konzerten von einem freundlichen Mitarbeitern verkünden, er wünsche keine Handys im Publikum zu sehen. Es gab kein explizites Verbot, nur den ausdrücklichen Wunsch des Künstlers. Erstaunlicherweise hielten sich gefühlte 99 Prozent des Publikums daran. Und, du liebes bisschen, was waren das für Shows! Ich erinnere mich noch gut an die Menge im Londoner Apollo, die einem entfesselten Mob glich. Es war wie eine gemeinsame Offenbarung, was so eine Show mit einem machen kann, wenn man beide Hände, Ohren, Augen und das Herz frei hat.
Nun ja, immerhin muss man den jungen Leuten vom letzten Sonntag zugute halten, dass sie sich auf einem Lorde Konzert eingefunden haben. Das zeugt zumindest von einem ausgeprägt guten Geschmack. Die junge Dame wünscht sich doch jede Mutter als Vorbild für ihre Tochter. Denn Lorde geht es nicht nur darum, mit ihrer Musik zu unterhalten, bei ihr bekommt man eine Portion menschlicher Werte gleich mit vermittelt. Wenn sie sich zum Beispiel die Zeit nimmt, auf der Bühne die Schuhe neu zu binden und dabei erzählt, wie sie in Neuseeland am liebsten faulenzt und Kuchen backt. Sie spricht davon wie wichtig es ist, ein bodenständiges Gegengewicht zu dem ganzen Glamour und Popstar-Leben zu haben. Man hat sie nicht nur furchtbar gern, wie sie da auf der Bühne sitzt und viel zu lang und ausufernd ihre Geschichten erzählt, während der Keyboarder im Hintergrund in Endlosschleife die gleichen Akkorde klimpern darf. Nein, man wird auch das Gefühl nicht los, dass diese Kuchen, die Lorde Zuhause in Neuseeland backt, wahrscheinlich verdammt lecker schmecken.
Beim diesjährigen Glastonbury Festival hatten wir die Möglichkeit, Lorde auf einer der Hauptbühnen zu erleben. Dort gab es eine große Gruppe Tänzer, einen hydraulischen Glaskasten, in dem sie sich gemeinsam mit Lorde bewegten, ein Streicherquartett und drei Background Sängerinnen. Das war eine sehr beeindruckende Show, aber auf der wesentlich kleineren Bühne des Tempodrom bewies Lorde, dass sie auch im etwas intimeren Rahmen überzeugen kann. Beziehungsweise, die Gleichung funktioniert auch umgekehrt: selbst mit ordentlich Tamtam drum herum liegt der Fokus immer auf Lorde selber, ihre Performance wirkt nie seelenlos. Letztendlich schafft sie es allein mit ihrer Ausstrahlung, ihrer Schönheit und ihrer Offenheit, ihr Publikum einzunehmen. Vor allem wenn man sich erinnert, wie sie sich noch vor drei Jahren bei ihrem ersten Deutschlandkonzert die meiste Zeit im Gegenlicht hinter einem Vorhang von Haaren versteckte, dann kann man nur noch staunen, wie sehr sie in den letzten Jahren über sich hinaus gewachsen ist. Am Ende gelingt es ihr allein durch ihre Präsenz, ihre Ankündigung sie werde alle zum Tanzen bringen, in die Tat umzusetzen. Bei den letzten Songs schwirren dann auch tatsächlich wesentlich weniger leuchtende Bildschirme durch die Luft, dafür umso mehr über den Kopf geworfene Hände.
Lorde ist mit ihrer Persönlichkeit eigentlich der genaue Gegenpol zu dieser schnelllebigen, sich im Virtuellen verirrenden Snapchat-Gesellschaft. Es scheint so als fehle ihr, im positivsten Sinne, der entscheidende Funke Oberflächlichkeit. Man tanzt mit ihr hinab in die Tiefe. Dort kann man Party machen, emotionalen Trost erfahren und es riecht nach frisch gebackenem Kuchen.
War dabei: Gabi Rudolph