Gesehen: „Stoker – Die Unschuld endet“ von Park Chan-Wook

Eine Spinne kriecht an ihrem Bein entlang, doch sie versucht sich nicht ihrer zu entledigen. Unbeeindruckt spielt sie weiter am Klavier. Zu ihrem Geburtstag erhält sie ein Paar schwarzweiße Sattelschuhe, welches sie bereits in mehrfacher Ausführung ihr Eigen nennt, aber es wird kein Wort der Enttäuschung darüber verloren. Sie liebt es mit ihrem Vater jagen zu gehen und als sie von Schulkameraden erniedrigt wird, zückt sie ihren makellos angespitzten Bleistift als Waffe. Wer ist dieses Mädchen mit dem schwarzen Haar?

Die Zeit der Trauer beginnt als der Vater (Dermot Mulroney, „The Grey – Unter Wölfen“) von India Stoker (Mia Wasikowska, „Restless“) an ihrem 18. Geburtstag bei einem Autounfall ums Leben kommt. Als bei der Trauerfeier der zuvor unbekannte Onkel Charlie (Matthew Goode, „A Single Man“) auftaucht, ist das stille Mädchen zunächst zurückhaltend – ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter Evelyn (Nicole Kidman, „Die Dolmetscherin“), die dem charismatischen Gast sofort verfallen ist. Doch auch India spürt bald eine immer stärker werdende, unerklärliche Zuneigung zu ihrem Onkel. Trotz dessen dieser die beiden Frauen im Unklaren über die Gründe seines Aufenthalts lässt, wächst das faszinierende Mysterium um ihn. India ist wie paralysiert, verwirrt und entfacht zugleich. Die Zeit der Unschuld ist zum Ende gekommen.

Fragile Schönheit versus verstörende Gewalt

Das auf der 2010er Black List der noch unveröffentlichten, aber verheißungsvollen Drehbücher stehende „Stoker – Die Unschuld endet“ wurde von „Prison Break“-Hauptdarsteller Wenthworth Miller geschrieben, welcher sein Werk aus Angst vor Vorurteilen unter dem Namen seines Hundes veröffentlichte. Den Regiestuhl besetzte der renommierte Südkoreaner Park Chan-Wook („Oldboy“, „Lady Vengeance“). Ein ungewöhnliches Gespann, welchem es gelungen ist zusammen einen anspannenden wie ruhigen, visuell wuchtigen wie zurückhaltenden Thriller zu inszenieren, der dem Zuschauer die Nackenhaare aufstellen wird. Denn man weiß nie genau, woran man bei dieser befremdlichen Geschichte ist. Die komplexe Figur der India Stoker verkörpert in einem Moment das junge Mädchen, welches barfuß über die Wiesen läuft und im nächsten Augenblick die Krokodil-Stilettos tragende, unbarmherzige Frau mit dem Gewehr im Anschlag. Ausflüchte gibt es in den 99 Minuten nicht. Man wird in die Enge getrieben und alles ist nah, klar und unausweichlich. Mit seinem Hollywood-Debüt gelang Park Chan-Wook ein klaustrophobisches Kunstwerk der moralischen Unverhältnismäßigkeit.

Kinostart: 09. Mai 2013

Gesehen von: Hella Wittenberg


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