Gesehen: „Das Lehrerzimmer“ von İlker Çatak

Die Schule als Spiegelbild einer funktionierenden Gesellschaft? Erstrebenswert. Die Schule als Spiegelbild einer dysfunktionalen Gesellschaft? Beängstigend. Oder Realität? Wenn es nach dem Film „Das Lehrerzimmer“ gehen würde, eher Letzteres. In einer fiktiven Schule irgendwo in Deutschland, erzählt Regisseur İlker Çatak („Es gilt das gesprochene Wort“eine ambivalente Geschichte über die heutige Wahrheitsfindung und den Glauben an die Wahrheit, sowie Fake News, Cancel Culture und unser starkes Bedürfnis, alles an einen „Sündenbock“ zu heften. Gemeinsam mit seinem Co-Drehbuchautor Johannes Duncker verarbeitet Çatak persönliche Erfahrungen und Erlebnisse, die während ihrer beider Schulzeiten und Filmrecherchen im Bildungssektor passiert und gesammelt wurden. Der mit türkischen Wurzeln in Berlin geborene Çatak besuchte in der achten Klasse eine Schule in der Türkei, wo er selbst Zeuge eines ähnlich wie im Film dargestellten Falls wurde. Nach einer Reihe von Diebstählen wurden die Brieftaschen sämtlicher männlicher Schüler in Anwesenheit aller durch das Lehrerpersonal gefilzt. Dunckers Schwester wiederum berichtete von Diebstählen, die im Lehrerzimmer ihrer Schule verübt wurden. Durch Gespräche mit Lehrer*innen, Schulleiter*innen und Schulpsycholog*innen erhielten beide Autoren Einblicke in teambildende Maßnahmen und Veränderungen im Bildungssektor. Es ging daraus unter anderem klar hervor, dass konfliktschürende Zwischenfälle jeglicher Art heutzutage viel schneller zwischen Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern kommuniziert werden können, beispielsweise durch Social Media oder Schnell-Nachrichtendienste. Im Film redet man zwar von einer „Null-Toleranz-Politik“, auch was den Missbrauch dieser allzeit omnipräsenten „Bewachung“, beispielsweise durch heimliches Aufnehmen Anderer, angeht. Letztendlich wird man aber eher dafür gerügt und ausgegrenzt. 

Derartigen Missbrauch widerfährt auch der jungen Mathe- und Sportlehrerin Carla Nowak (Leonie Benesch „Babylon Berlin“), einer äußerst engagierten und fairen Lehrerin, die sich für das Wohl ihrer Schüler*innen einsetzt. Zwar strahlt ihr Aussehen und Auftreten absolut keine Autorität aus, jedoch erfreut sie sich, dank ihrer Überzeugung, die noch jungen Kinder in Entscheidungen miteinzubeziehen, an Beliebtheit unter ihren Schüler*innen. Sie achtet auf ein obligatorisch-akkurates Gendern im Unterricht und lässt die Schüler*innen demokratisch über die Frage, ob man den Notenspiegel einer Klassenarbeit öffentlich an die Tafel schreiben könnte, abstimmen. Gibt es aber trotzdem Einwände, erfragt sie Begründungen, plausible Argumente und Meinungen. Moderne Schulpädagogik eben.

Als eine Serie von Diebstählen die Schule erschüttert, stellt sie sich auf die Seite eines beschuldigten Schülers. Zwar wird dieser später in Gegenwart der Eltern für unschuldig erklärt, doch bleibt bei Carla der fade Beigeschmack, dass die Kolleg*innen ausgerechnet einen Schüler mit Migrationshintergrund des Diebstahls bezichtigt haben, noch dazu ohne jeden eindeutigen Beweis. Schön vage bleiben und nur so viel sagen, das ausreicht, um Zweifel und Misstrauen zu säen, lautet die Taktik des Schulkollegiums. Es ist aber nicht dieser Vorfall, der sie aufwühlt, sondern dass ihre Kolleg*innen fragwürdige Methoden einsetzen, um den wahren Täter zu finden. Durch die sogenannte „Null-Toleranz-Politik“ der Schule, werden einzelne Schüler*innen, die „mutmaßlich“ etwas wissen, dazu „gebeten“, die Namen der beschuldigten Mitschüler*innen preiszugeben. Das Denunzieren ist natürlich „freiwillig“, denn „wer nichts zu verbergen hat, der braucht sich auch keine Sorgen zu machen“. Carla ist mit diesen Methoden nicht einverstanden und macht sich dadurch im Lehrerzimmer unbeliebt. 

Man kann an dieser Stelle des Films nicht anders, als auf ihrer Seite zu sein. Vor allem wenn Carla schließlich selbst als Geschädigte Anschuldigungen gegenüber der Schulsekretärin (Eva Löbau) vorbringt, welche gleichzeitig auch die Mutter eines Schüler Carlas ist. Ab jetzt verschwimmen die Grenzen zwischen Gut und Böse, und durch Carlas Intention, immer das Richtige tun und es allen recht machen zu wollen, geraten die Figuren und die durch ihre Taten entstehenden Situationen immer mehr aus den Fugen. Echauffierte Eltern drängen auf Carlas Suspendierung, die Schüler*innen, vor allem die Redaktion der Schulzeitung, solidarisieren sich mit der Beschuldigten und versuchen Carla mittels Verleumdung an den öffentlichen Pranger zu stellen. Wer wird

siegen? Die wilde Masse Halbwüchsiger, deren Prinzip offensichtlich lautet: Ich bin im Besitz meiner Freiheiten und Rechte, habe zu allem eine Meinung und keine Angst, diese auch zu äußern? Oder obsiegt eine Protagonistin, deren einzige Stärken ihr idealistischer Gerechtigkeitssinn und ihr fast schon naives Moralgefühl sind? 

Man kann sich bei dieser Prämisse nur die Fingernägel vor Unbehagen und Scham abkauen. Wenn schon solch eine schwache Figur, wenn auch fiktiv, in dem gegebenen (Schul-)System überhaupt keinen Platz hat zu existieren, was ist dann die Realität? Sollten wir Kinder eines im Auge der Allgemeinnorm jungen Alters dazu befugen, eine autonom-unabhängige Meinung zu haben, sie publik zu äußern und gegebenenfalls auch durchzusetzen? Autoritäten zu untergraben, nur weil man einer Generation angehört, der gefühlt jede Autorität abhold ist und die, megalomanisch diese marginalisiert und missbraucht, statt sie zu respektieren? Gegen Ende des Films, in einer für Carlas berufliche Existenz wichtigen Szene wird tatsächlich der erst 12-jährigen Klassensprecher um seine Meinung zum Sachverhalt gefragt und ob Carla weiterhin im Kollegium bleiben solle oder nicht. Ein sehr schmaler Grat bei der Frage nach Toleranz, wenn man den Spiegel der Realität vor sich hält! Food for thought, sobald man mit einem bleibenden mulmigen Gefühl im Bauch den Kinosaal verlässt.

„Das Lehrerzimmer“ gehört definitiv zu den Highlights des Jahres 2023 und hat sich das Prädikat „besonders wertvoll“ absolut verdient. Der Film überzeugt mit seinen nur 98 Minuten, vor allem auch durch sein perfekt getaktetes dramaturgisches Tempo, sein klaustrophobisches 4:3-Filmformats, dem nuancierten Schauspiel eines soliden Ensembles, einem eloquenten Drehbuch, aber vor allem mit einer Meisterleistung der Hauptdarstellerin Leonie Benesch, die zurecht für diese Leistung im Rahmen der Berlinale als European Shooting Star 2023 ausgezeichnet wurde. Ein großes Chapeau an das gesamten Team, dem es mit „Das Lehrerzimmer“ gelang, die innere Zerrissenheit, den Druck und die Frustration idealistischer Integrität dem Zuschauer so greifbar nahe zu bringen.

„Das Lehrerzimmer“ feierte seine Premiere in der Sektion Panorama bei der diesjährigen Berlinale und ist jetzt in den deutschen Kinos zu sehen.

Foto © Alamode Film