„Fall nicht auf, du bist schon vietnamesisch“, sagt die Mutter zu ihrem Sohn. Aber es ist gar nicht so leicht in der Masse zu verschwinden, immer unauffällig zu sein, wenn das eigene Leben so voller ungewöhnlicher Dinge, Gefühle und Ereignisse ist. Also schreibt der Sohn der Mutter einen Brief, in dem er all das vor ihr niederlegt: sein Leben, ihr Leben, das seiner Großmutter. Das Leben als Sohn einer Mutter, die mit ihrem Kind über die Philippinen in die USA flüchtete, die selbst das Kind einer Vietnamesin und eines amerikanischen Soldaten ist und aufgrund ihrer gemischten Herkunft in Vietnam nicht legal arbeiten durfte.
Die Mutter ist Analphabetin, weshalb sie diesen langen Brief wahrscheinlich nie lesen wird. Umso offener gelingt es dem Sohn zu erzählen. Er dringt ein in die Geschichte der Mutter, der Großmutter, in die Zeit des Vietnamkrieges, die bei Großmutter wie Mutter posttraumatische Störungen hinterließ. Mutter und Sohn sind eng miteinander, aber es herrscht auch Gewalt. Er beschreibt die Erlebnisse Rücken an Rücken, den Kauf teurer Schokolade und ihren lustvollen Verzehr genauso wie die Faustschläge der Mutter auf einem Parkplatz, gegen die er sich mit erhobenen Armen versucht zu schützen. In den USA trifft er seinen Großvater wieder, dessen ruhige, akademische Welt so ganz im Gegensatz steht zu der der in einem Nagelstudio arbeitenden Mutter.
Er versucht dieses Leben zu ergründen, das seiner Familie aber vor allem auch sein eigenes. Das Aufwachsen als zarter, androgyner Junge, der am liebsten Dichter werden würde. Der sich beim Ferienjob auf einer Tabakplantage zum ersten Mal in einen anderen Jungen verliebt. Der beobachtet, wie diesen und viele andere Freunde die Drogensucht dahin rafft. Eigentlich sollte es ein lautes Leben sein, in dem es viel herauszurufen gibt, aber ihm gegenüber steht die Zurückhaltung vietnamesischer Einwanderer in den USA.
Ocean Vuong wurde 1988 in Saigon geboren und emigrierte im Alter von zwei Jahren mit seiner Mutter und seinem Vater in die USA. Sein Vater verschwand kurze Zeit darauf und ließ Mutter und Sohn allein zurück. 2016 veröffentlichte er den Gedichtband „Night Sky With Exit Wounds“ und bereits in seinen Gedichten beschäftigte er sich mit seiner Herkunft, seinem abwesenden Vater, seiner Mutter, seiner Sexualität und seiner Identität als vietnamesischer Einwanderer in den USA. All diese Themen verbindet er nun zu seinem ersten Roman „Auf Erden sind wir kurz grandios“, seit dessen Erscheinen er in den USA als literarisches Wunderkind gefeiert wird. Wieviele der beschriebenen Erlebnisse eins zu eins autobiografisch sind, bleibt, wie schon bei seinen Gedichten, im Dunklen, aber das ganz zurecht. Seine Erzählung ist keine Lebensbeichte sondern eine Mischung aus märchenhafter Poesie und hartem Realismus. Die Herkunft vom Gedicht kann auch seine Prosa nicht verleugnen.
Umso erstaunlicher ist es, wie unmittelbar und emotional berührend „Auf Erden sind wir kurz grandios“ geworden ist. Die wechselhafte Struktur und der oftmals künstliche sprachliche Duktus können zum Glück nie darüber hinwegtäuschen, dass hier jemand aus vollem Herzen erzählt. Die Art, das eigene Leben mit Wucht aufzubrechen und es dann in ein poetisches Gewand zu gießen erinnert an Yrsa Daley-Ward, die ebenfalls mit dem Schreiben von Gedichten anfing und die stilistischen Grenzen zwischen Prosa und Poesie in ihrem autobiografischen Roman „Alles, was passiert ist“ verschwimmen ließ.
„Auf Erden sind wir kurz grandios“ ist ein beeindruckender Einblick in ein schmerzhaftes, aber reiches Leben geworden, fremd und allgemeingültig zugleich. Ocean Vuong verstört mit seiner Erzählung und seiner Sprache genauso wie er Trost spendet – sich selbst, seiner Mutter und den vielen verlorenen Seelen, die sich in seiner Geschichte wiederfinden werden.
„Auf Erden sind wir kurz grandios“ von Ocean Vuong ist im Hanser Verlag erschienen und kann hier käuflich erworben werden.
Gelesen von: Gabi Rudolph