Gelesen: Yrsa Daley-Ward „Alles, was passiert ist“

Am Anfang ist da ein Einhorn, das Yrsa und ihr kleiner Bruder im Garten sehen, während im Haus ihre Mutter und deren Freund sich anschreien – so beginnt die Lebensgeschichte von Yrsa Daley-Ward. „Alles, was passiert ist“ heißt ihr erstes in deutscher Übersetzung erschienenes Buch, und Yrsa Daley-Ward erzählt in ihren Texten genau das: alles, was ihr passiert ist. Die englische Originalausgabe trägt den Titel „The Terrible“ und dieser lässt erahnen: Vieles ist passiert, und das wenigste davon war schön.

Heute ist Yrsa-Daley Ward Autorin, Dichterin, Feministin und Model. Früher war sie ein kleines Mädchen, das gemeinsam mit ihrem Bruder Little Roo im Norden Englands aufwächst. Sie ist das Kind einer wunderschönen, aber mit dem Leben überforderten Jamaikanerin und, wie die Mutter erzählt, eines nigerianischen Prinzen, den sie aber nie treffen wird. Als mit sieben ihre Brüste anfangen zu wachsen, schickt die Mutter sie zu den streng gläubigen Großeltern, um sie vor dem Stiefvater zu schützen. Als Kind ist sie es gewöhnt, dass die anderen Mädchen sich über sie lustig machen, mit 13 wird sie sich erstmals ihrer Wirkung auf Männer bewusst. Mit 14 hat sie zum ersten Mal Sex, mit 16 ihren ersten, wesentlich älteren Freund. Wenig später arbeitet sie als Katalogmodel, als Eskort-Girl, als Erotiktänzerin. Um die von der Modelagentur gewünschten Maße zu erreichen hört sie auf zu essen, Selbstkontrolle durch Kalorienreduktion, die hervortretenden Hüftknochen werden zu Trophäen. Statt Nahrung konsumiert sie Drogen und Alkohol. Sex ist Waffe und Bedrohung zugleich.

Yrsa Daley-Ward geht einen schmerzhaften Weg zwischen Selbstzerstörung, Depression und Einsamkeit, sie flieht vor denen die ihr nahe stehen, vor der Verantwortung für den kleinen Bruder, der selbst immer mehr vom Weg abkommt, vor der Auseinandersetzung mit der eigenen Mutter, bis sie zuletzt auch noch deren Verlust verkraften muss. So wirklich, wirklich schrecklich das alles ist, so absurd schön ist die Form, die sie ihrer Erzählung gegeben hat. Fließend wechselt sie die Perspektiven zwischen erster und dritter Person, springt sie zwischen Prosa und Lyric, zwischen knallhartem Realismus und fantastischer Poesie. Yrsa Daley-Wards Stil ist völlig eigenständig, ihr gelingt der Spagat zwischen roher Emotion und poetischer Künstlichkeit. Das Ergebnis ist schlichtweg berauschend. Einmal zur Hand genommen ist man völlig aufgesogen von der Welt von „Alles, was passiert ist“, die Seiten fliegen nur so dahin. Dass unter anderem Florence Welch von Florence & The Machine große Bewunderin von Yrsa Daley-Ward ist, ist nicht verwunderlich. Denn hier trifft emotionale Wahrhaftigkeit auf einen fast schon musikalischen Rhythmus.

Trotz allem Schrecklichen das hier passiert, fühlt sich „Alles, was passiert ist“ aber auch an wie ein Plädoyer für das Leben. Wie ein Manifest dafür, dass man alles durchstehen kann und dafür, auch in Zeiten größten Schmerzes die Hoffnung nicht zu verlieren. Am Ende ist dann auch das Einhorn wieder da. Und mit ihm das Gefühl, vielleicht jetzt schon das besonderste Buch des Jahres in der Hand gehalten zu haben.

Info: „Alles, was passiert ist“ von Yrsa Daley-Ward ist in deutscher Übersetzung im Aufbau Verlag erschienen und kann hier käuflich erworben werden. Eine Leseprobe gibt es hier

Gelesen von: Gabi Rudolph

www.aufbau-verlag.de

www.yrsadaleyward.net