Gelesen: Linda Boström Knausgård „Willkommen in Amerika“

Linda Boström Knausgard unvoreingenommen zu begegnen scheint nahezu unmöglich. Als Ehefrau des norwegischen Erfolgsschriftstellers Karl Ove Knausgard und Mutter gemeinsamer vier Kinder wurde sie gezwungenermaßen zu einer Person der Öffentlichkeit – ist sie doch schließlich eine entscheidende Figur in Karl Ove Knausgards berühmten autobiografischen Romanzyklus. Ohne ihr eigenes Dazutun erfährt man viel über diese Frau, die selbst Schriftstellerin ist und deren Werk aus dem schwedischen in zahlreiche Sprachen übersetzt und für verschiedene Preise nominiert wurde. Man weiß von ihrer bipolaren Störung, ihren Aufenthalten in der Psychiatrie, von den Ehekrisen, all das machte ihr Mann zu Teilen seines kreativen Schaffens. Inzwischen lebt das Paar getrennt.

Mit „Willkommen in Amerika“ ist nun Linda Boström Knausgards zweiter Roman erschienen, der erste in deutscher Übersetzung. Es ist eine 144 Seiten straffe Erzählung, die in einem Rutsch nur so dahin fließt. Knausgards Mutter ist Schauspielerin, die der 11 jährigen Ellen, in deren Erzählwelt wir in „Willkommen in Amerika“ eintauchen, ebenfalls. Bei so viel autobiografischen Inhalten rattert es natürlich schon, wieviel hiervon aus dem eigenen Leben gegriffen ist. Was fast ein bisschen schade ist, denn eigentlich ist es in Hinsicht auf das Leseerlebnis total unwesentlich. Zumal selbst Karl Ove Knausgard in „Kämpfen“, dem letzten Teil seines Zyklus resümiert, dass sein Vorhaben, die Realität völlig unverfälscht abzubilden, gescheitert sei. Und lässt vor allem im Bezug auf den letzten Teil, der sich mit dem Klinikaufenthalt seiner Frau beschäftigt offen, ob das jetzt alles wirklich genau so passiert ist. Ein Verwirrspiel mit der Realität, das am Ende spannender ist als sklavische Faktentreue, für die man auch die Tageszeitung lesen kann.

Letztendlich ist Linda Boström Knausgards Schreibstil so dicht, so fesselnd, dass alles, was man sich vorher an Hintergedanken zurechtgelegt hat, verblüffend schnell unwichtig wird. Auch sollte man sich nicht von der Kürze der Erzählung irritieren lassen. Es wohnt eine Kraft in den wenigen Seiten, die manch anderer über das Doppelte hinweg nicht entwickelt bekommt. „Willkommen in Amerika“ zeichnet das Bild einer dysfunktionalen Familie, in deren Zentrum die elfjährige Ella steht, umgeben von ihrer Mutter, ihrem älteren Bruder und ihrem kürzlich verstorbenen Vater. Die Wohnung wird, trotz ihrer beschriebenen Größe, zum klaustrophobischen Spielraum, dem mehr und mehr die Luft entzogen wird. Ella hat sich entschieden, nicht mehr zu sprechen und auch nicht mehr schriftlich zu kommunizieren. Die Macht ihrer Gedanken hat sie verstummen lassen, nachdem sie sich den Tod ihres Vaters gewünscht hat, der prompt eintrat. Eigentlich sollte er eine Erleichterung sein, stellte der alkoholabhängige Vater seit der Trennung doch eine Quelle unberechenbarer Aggressivität dar. Aber er will nicht verschwinden, immer wieder erscheint er Ella in ihrem Kinderzimmer und bestätigt sie in der Macht ihres Schweigens. Wenn sie nicht spricht, sei sie stärker als ihre Mutter.

„Wir sind eine helle Familie“, heißt es, es ist die Parole, die die Mutter ausgibt, es scheint als versuche Ella dies zu verinnerlichen, indem sie es immer wieder wiederholt. Es sind nicht die großen Schrecken, die Linda Boström Knausgard heraufruft, um das gespenstische Miteinander zu erzählen. Das macht das Leben, das hier portraitiert wird aber nicht weniger erschreckend, im Gegenteil. Einzelne Momente verdichten sich, führen hin zur zunehmenden Isolation einer Familie, die tatsächlich einmal „hell“ war. Die Freunde, die früher Rollschuh im Flur fuhren und Eishockeypucks gegen die Türen schossen, bleiben aus, als Ella das Sprechen aufgibt. Immer wieder kommen Menschen von außen, die Leben mitbringen, aber sie verschwinden wieder. Wie die Freundin des Bruders, der sich sonst in seinem Zimmer verbarrikadiert und in Flaschen uriniert. Auch sie kommt nach einer kurzen Episode nicht mehr wieder, vorher aber tauchen auf dem Küchentisch noch offen herumliegende, pornografische Polaroids von ihr auf. Das Gefühl von Normalität hält nie lange an.

Dass es weder eine Auflösung, noch einen Eklat zum Ende gibt, macht „Willkommen in Amerika“ letztendlich nur noch verstörender. Es ist eine Momentaufnahme, die keine Erklärungen liefern will, die beobachtet, seziert und viele Fragen offen lässt. Eine hypnotische Reise in die Tiefen einer Kinderseele, die versucht, innerhalb eines instabilen Umfelds ihren Weg zu finden. Immer wieder gibt es Momente der Freude, auch des Verständnisses, wenn die Mutter sich zum Beispiel auf die Seite ihrer Tochter schlägt, als der Schuldirektor vor Ellas Sprachlosigkeit zu kapitulieren droht. Es gibt aber keine Konstante, es herrscht kein Umfeld, in dem ein Kind sich angstfrei entwickeln kann. Aber Ellen kämpft um ihre eigene, persönliche Erkenntnis.
Stilistisch beweist Linda Boström Knausgard, dass sie eine große Erzählerin ist, die mit wenigen Worten viel heraufbeschwören kann. Dabei gelingt ihr auch die Gratwanderung zwischen ihrem ausgefeilten Stil und dem Versuch, den inneren Monolog eines Kindes darzustellen. Ihre Erzählung ist tief, ehrlich und nie künstlich. Man möchte noch ganz viel von ihr lesen.

Info: Linda Boström Knausgards Novelle „Willkommen in Amerika“ ist im Schöffing Verlag erschienen und kann hier käuflich erworben werden. Eine Leseprobe gibt es hier. 

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