Es scheint, dass Lana Lux’ Bücher und ich immer in Ausnahmesituationen zueinander finden. Als ich gerade ihren ersten Roman „Kukolka“ las, wurde mein Sohn krank und lag zwei Tage mit hohem Fieber neben mir, während ich die Geschichte nur so verschlang. Und jetzt? Corona-Krise, Social Distancing, Hamsterkäufe, drohende Ausgangssperre. Mittendrin ich und ausgerechnet Lana Lux’ neuer Roman „Jägerin und Sammlerin“. Dabei sind ihre Geschichten schon für sich ein Ausnahmezustand. Sie strotzen nicht wirklich vor Licht und Hoffnung. Gleichzeitig kann es ganz erhellend sein, sich mit den Nöten anderer auseinanderzusetzen, wenn man isoliert aber zumindest gesund in der eigenen, warmen Wohnung sitzt und sogar wieder genug Klopapier hat.
In „Kukolka“ schrieb Lana Lux über ein ukrainisches Straßenmädchen, das als Zwangsprostituierte in Deutschland landet. In ihrem zweiten Roman „Jägerin und Sammlerin“ geht es um eine Mutter-Tochter-Beziehung, die problematischer kaum sein könnte. Alisa lebt als Tochter ukrainischer Einwanderer in Berlin, gemeinsam mit ihrer besten Freundin Mascha in der Wohnung, in der sie ursprünglich mit ihrer Mutter gelebt hat, bevor diese mit ihrem neuen Freund zusammen zog. Alisa ist gut in der Schule und verdient ihren eigenen Lebensunterhalt mithilfe mehrerer Aushilfsjobs, aber sie ist auch depressiv und essgestört. Die Anfälle, in denen sie unkontrolliert Essen in sich hineinstopft und es anschließend erbricht, bestimmen zunehmend ihr Leben. Sie wäre gerne mehr wie ihre Freundin Mascha, die kleine, zierliche (ebenfalls essgestörte) Balletttänzerin, aber Alisa ist von ihrer Grundstatur her groß und muskulös, der Kampf gegen den eigenen Körper ist ein auswegloser. Alisa erkennt schließlich, dass sie Hilfe benötigt und begibt sich in eine Klinik. Ihre Psychologin rät ihr, die eigene Lebensgeschichte aufzuschreiben, und Alisa fängt an, sich auf diese Weise mit ihrer Kindheit auseinanderzusetzen. Vor allem mit dem Verhältnis zu ihrer schönen, aber emotional schwer zu greifenden Mutter.
Schließlich gibt Alisa den Rat ihrer Psychologin an ihre Mutter weiter, und auch Tanya fängt an, trotz starker emotionaler Gegenwehr, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. Auf diese Weise bekommen wir einen Einblick in die Vergangenheiten der beiden Frauen, die unterschiedlicher kaum sein könnten und die sich ihr Leben lang an an ihrer Beziehung zueinander abarbeiten. Während Alisa schon als kleines Kind stets meint, den Ansprüchen der eigenen Mutter nicht zu genügen, zeigen Tanyas Aufzeichnungen auf schmerzliche Weise, dass dieses Gefühl leider seine Berechtigung hat. Sie gehen zurück zu Tanyas Kindheit und Jugend in der Ukraine, enthüllen die tragische Geschichte ihrer Mutter und die problematische Beziehung zu Alisas Vater, dem wesentlich älteren Gleb. Die Hoffnung, dass in Deutschland alles besser wird, erfüllt sich leider nicht. Gleb kommt nicht damit zurecht, seinen Status aufgegeben zu haben und sich eine neue Existenz aufbauen zu müssen. Tanya versucht voller Motivation in Deutschland Fuß zu fassen, schafft es aber nicht, das Gefühl der Fremdheit gegenüber ihrer Tochter abzulegen.
„Jägerin und Sammlerin“ beweist, dass Lana Lux auch in ihrem zweiten Roman nichts von ihrer erzählerischen Intensität eingebüßt hat. Kompromisslos zeichnet sie ihre Figuren so wie sie sind, gibt gnadenlos Einblick in ihre Emotionen, ihren Schmerz und ihre Beweggründe. Dabei schert sie sich wenig darum, ob sie beim Leser Sympathien wecken, was „Jägerin und Sammlerin“ zu einer echten Herausforderung macht. Aber wie bereits bei „Kukolka“ ist auch hier der ungeschönte Realismus die große Stärke. Die Emotionen, die Angst sich ihnen zu stellen, mit ihnen umzugehen oder die Unfähigkeit überhaupt etwas zu fühlen, das sind die Themen, für die Lana Lux sich interessiert, die Wunden, in die sie ohne Scheu den Finger legt. Es fällt einem nicht leicht, sich mit einer Frau wie Tanya freiwillig auseinanderzusetzen, aber es fühlt sich auch irgendwie gut an, dazu gezwungen zu werden.
Was sich in „Jägerin und Sammlerin“ deutlich zeigt ist, dass Lana Lux stilistisch am überzeugendsten in der Ich-Perspektive ist. Als allwissentliche Erzählerin wirkt ihre Sprache manchmal etwas holperig, zu ungefiltert. Sobald sie unmittelbar in die Stimme ihrer Figuren schlüpft, passt es perfekt. Vielleicht ist sie zu nah an ihnen dran, um sie von außen zu betrachten. Was wiederum für ihre starke Empathie spricht, mit der sie sich auch schwer zugänglichen Charakteren unvoreingenommen nähert.
Am Ende gibt es, wie bereits bei „Kukolka“, einen Funken Hoffnung. Aber auch keinen Zweifel daran, dass vor Mutter und Tochter noch ein weiter Weg liegen. Eine Garantie für eine beide Seiten heilende Annäherung gibt es nicht. Das muss man erst einmal aushalten. Ob man sich gerade jetzt in der Isolation daran wagen sollte, das muss jeder für sich entscheiden. Aber ich habe es bereits nach der Lektüre von „Kukolka“ gesagt: so ein Blick über den eigenen Tellerrand hinaus, der kann besonders in schwierigen Zeiten auch ganz heilsam sein. Dass dieses Gefühl sich bei beiden ihrer Werke einstellt zeigt eindeutig, dass Lana Lux es geschafft hat, als Erzählerin eine eigene, nachdrückliche Stimme zu finden.
„Jägerin und Sammlerin“ von Lana Lux ist im Aufbau Verlag erschienen und kann hier käuflich erworben werden.