Gelesen: Hanya Yanagihara „Ein wenig Leben“

HB Yanagihara_25471_MR1.inddDie amerikanische Autorin Hanya Yanagihara hat mit ihrem Debütroman „Ein wenig Leben“ offensichtlich einen Nerv getroffen. In den USA und England gab es zum Erscheinen bei Erwerb des Buchs passenden Merchandise wie Stofftaschen, bedruckt mit den Namen der vier Freunde, von denen „Ein wenig Leben“ erzählt: Jude, Willem, JB und Malcolm. Und auch in den deutschen Bestseller Listen hat es sich direkt eingenistet, an dem auffällig expressiven Cover kommt man im Moment in keinem Buchladen vorbei. Eine äußerst passende Umschlaggestaltung ist es geworden. Hätte ich beim Kampf mit diesem 950 Seiten starken Monstrum einen Spiegel zur Hand gehabt, ich schätze mein Gesichtsausdruck hätte oft dem des leidenden Mannes geglichen, mit dem „Ein wenig Leben“ sich schmückt.
Es ist also die Geschichte von vier Freunden, die sich auf dem College kennenlernen. Mit der Zeit kristallisiert sich aber heraus, dass es eigentlich einer der vier ist, um den sich alles dreht, sowohl die Handlung als auch sämtliche andere Figuren: Jude St. Francis, erst Jurastudent, später Top-Anwalt und Teilhaber in einer Kanzlei für Firmenrecht. Zu Anfang werden wir  in den Kreis der vier eingeführt: Willem möchte Schauspieler werden, arbeitet aber als Kellner, Malcolm träumt von einer Karriere als Architekt, JB malt Bilder und möchte am liebsten einfach nur Künstler sein. Alle vier, so viel sei verraten, werden in ihren Karrieren ausnahmslos erfolgreich sein. Damit hätte sich die Geschichte der Freundschaft fürs Leben eigentlich schon aus erzählt, wäre da nicht Jude, der irgendwie anders ist als die anderen. Seit einem Unfall, bei dem seine Beine und sein Rücken unheilbar in Mitleidenschaft gezogen wurden, leidet er unter Schmerzattacken. Über den genauen Hergang schweigt er sich aus, so wie über alles andere, das in seiner Kindheit und der Zeit vor dem College liegt. Wenn er alleine ist, ritzt er sich mit Rasierklingen. Und während seine Freunde, sowie der sich aufopfernd um ihn kümmernde Arzt Andy darüber im Dunkeln tappen, welche Geister ihren Freund jagen, lernen wir sie kennen. Es ist ein wahres Martyrium, das sich entrollt, Kapitel für Kapitel, eine Geschichte aus den finstersten Ecken menschlicher Abgründe. Ein Waisenkind, das vom Kloster zu einem pädophilen Mönch zum Kinderheim zu einem sadistischen Arzt weiter gereicht wird und überall dort, wo es glaubt endlich in Schutz zu sein, nur weiteres Grauen erlebt. Das macht keinen Spaß zu lesen, aber Yanagihara streut die sich Stück für Stück enthüllenden Gräueltaten so geschickt in ihre Erzählung ein, dass man sich diesem sukzessiven Spannungsaufbau nur schwer entziehen kann. Und, das muss man ihr zugute halten, trotz dieses Blickes in tiefste Abgründe tappt sie nicht in die Falle, sich in zu exzessiven, Torture Porn artigen Beschreibungen zu ergehen. Als wolle sie dem geschändeten Kind den nötigen Respekt bei kommen lassen, begnügt sie sich meist mit Andeutungen, die auch genügen, um das Grauen weiter im Kopf entstehen zu lassen.
Ob das alles realistisch ist, sei dahin gestellt. Das ist aber auch nicht das Problem von „Ein wenig Leben“. In Bezug auf diesen Handlungsstrang kann man es lesen wie ein modernes Märchen, in dem der pädophile Mann dem bösen Wolf gleich kommt – auch wenn man selten ein Märchen mit derart vielen Wölfen gelesen hat. Auch die Schilderung der Wunden, die derartige Qualen an Körper und Geist eines Menschen hinterlassen, sind keineswegs übertrieben. Das eigentliche Problem ist, dass sich zu keinem Punkt wirklich erschließt, warum die Figur des Jude im Leben so vieler Menschen eine derart zentrale Figur einnimmt, was ihn charakterlich so sehr definiert, dass ein Collegeprofessor ihn adoptieren will, ein Arzt sich derart intensiv seiner annimmt und sein engster Freund Willem (der sich mit der Zeit als die zweite Hauptperson heraushebt) sich bis zur Selbstaufgabe mit ihm verbindet, sodass aus einer Männerfreundschaft am Ende sogar Liebe wird. So intensiv sie seine Vergangenheit beleuchtet und Erklärungen für sein destruktives Verhalten schafft, so wenig gelingt es Yanagihara, ein schlüssiges Bild des erwachsenen Jude zu kreieren, das glaubhaft vermittelt, warum so viele Menschen ihn derart aufopfernd lieben. Seine Flucht nach vorn in ein neues Leben besteht hauptsächlich aus Selbstoptimierung. Der beste Student zu sein, der beste Anwalt, der beste Koch, ein Mann, der Klavier spielt, Lieder singt und dabei mit seiner unfassbar schönen Stimme bezaubert. Was er darüber hinaus rein menschlich seinen Freunden gibt, bleibt ein Rätsel.
So wird aus „Ein wenig Leben“ ein Reigen von Menschen mit Helfersyndrom, die um eine verlorene Seele kreisen, die diese Hilfe zumeist nicht will oder nicht annehmen kann. Es wird viel eindimensionales Verhalten gezeichnet und die Momente, in denen die Menschen im Umgang mit Jude an ihre Grenzen stoßen, kommen schlichtweg zu kurz. Es gibt eine klare Grenzlinie zwischen Gut und Böse, die Yanagihara streng nicht zu überschreiten wollen scheint. Stattdessen scheinen alle, vor allem Jude, hauptsächlich damit beschäftigt, sich beieinander zu entschuldigen, derart inflationär, dass man alleine durch Streichung des Wortes „Entschuldigung“ dem Buch gefühlte 200 Seiten an Länge erspart hätte.
Darüber hinaus schleichen sich immer wieder Ärgerlichkeiten und Ungereimtheiten von unterschiedlich großem Ausmaß ein. Dass zum Beispiel Willem in seiner Karriere als berühmter Schauspieler nur Arthouse Filme von hohem intellektuellem Niveau dreht oder Judes körperliche Verfassung sich zu keinem Zeitpunkt negativ auf seine Karriere als Staranwalt auswirkt, sind nur zwei davon. Viel ärgerlicher aber ist die Tatsache, dass für Yanagihara selbst in einer liebevollen Beziehung schwuler Sex gleichbedeutend mit analer Penetration zu stehen scheint und die Möglichkeit, dafür Alternativen zu finden schlichtweg ausgeklammert wird. Man kann ihr das alles während dem Lesen einigermaßen verzeihen, weil „Ein wenig Leben“ sich stilistisch auf ähnlich hohem Niveau bewegt wie die Wohnungen und der Lebensstil ihrer New Yorker Jetset Figuren und einen nicht zu verleugnenden Sog entwickelt. Wirklich mögen kann man das Buch aber nur schwer. Man fühlt sich danach erschlagen und kann schwer sagen, was man aus dieser Geschichte nun fürs Leben mitnehmen soll.

Info: Hanya Yanagihara, 1974 geboren, ist eine US-amerikanische Schriftstellerin und Journalistin. Mit ihrem Roman „Ein wenig Leben“ gewann sie den Kirkus Award und stand auf der Shortlist des Man Booker Prize, des National Book Award und des Baileys Prize. Ein wenig Leben ist eines der bestverkauften und meistdiskutierten literarischen Werke der vergangenen Jahre. Es ist in Deutschland bei Hanser Berlin erschienen und kann hier käuflich erworben werden.

Gelesen von: Gabi Rudolph

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