Gelesen: „Die Wahrheit über das Lügen“ Oder: die ultimative Lobhudelei auf Benedict Wells

Kürzlich habe ich angefangen, Benedict Wells’ Erzählband „Die Wahrheit über das Lügen“ zu lesen, musste das Buch dann aber wieder aus der Hand legen, weil mich ein dringlicher Gedanke überkam: dass ich jetzt doch, endlich einmal und zuerst, seinen Roman „Vom Ende der Einsamkeit“ lesen muss. Und zwar aus drei Gründen. Erstens: weil zwei der Kurzgeschichten aus „Die Wahrheit über das Lügen“ sich auf „Vom Ende der Einsamkeit“ beziehen. Zweitens: weil ich Benedict Wells schon seit meiner Lektüre von „Becks letzter Sommer“ gut leiden kann, inzwischen aber mehrfach gesagt bekommen habe, dass man ihn erst richtig begriffen hat, wenn man „Vom Ende der Einsamkeit“ gelesen hat. Und drittens: einfach weil es schon viel zu lange auf meinem viel zu hohen Lesestapel immer wieder nach unten rutscht.
Was soll ich sagen – am Ende ging es schnell. Zum Leidwesen meiner Kinder, die 24 Stunden hungern und um Aufmerksamkeit weinen mussten, während ich auf dem Sofa lag und meine Taschenbuchausgabe mit nur so vor sich hin tropfenden Krokodilstränen versaut habe. Was habe ich geweint! Und gelitten und mich gleichzeitig gefreut. Über so viel Erzähltalent. Wie es Benedict Wells nahezu beispiellos gelingt, Tiefe und Leichtigkeit miteinander zu verbinden. Über so viel Empathie bei gleichzeitigem Fehlen jeglichen Zynismusses. Das ist so gut erzählt, so tiefgreifend zu Herzen gehend, man kann ihn dafür nur lieben. Vielleicht liegt es auch daran, dass er wie ich Arcade Fire und John Irving liebt (dessen „Bis ich dich finde“ das letzte Buch war, über dessen Seiten ich Tränen vergossen habe) – auf jeden Fall hat mich seine Geschichte von Jules, seinen Geschwistern Liz und Marty und seiner großen Liebe Alva so tief getroffen wie lange kein Buch mehr. Wenn überhaupt je eins. Durch „Vom Ende der Einsamkeit“ habe ich in Benedict Wells einen echten Herzensbuddy gefunden.
Die zehn Geschichten aus „Die Wahrheit über das Lügen“ haben sich nach dieser Lektüre ebenso rasch verputzt, sie wirkten wie ein bekömmlicher Nachtisch. Um die beiden, die sich darauf beziehen, besser zu verstehen ist es, wie bereits erwähnt, von Vorteil, „Vom Ende der Einsamkeit“ gelesen zu haben. Die Geschichte „Die Entstehung der Angst“ hätte nämlich ursprünglich Teil von „Vom Ende der Einsamkeit“ sein sollen. Diesen kurze Blick in die Vergangenheit von Jules’ Vater im Nachhinein zu lesen ist bereichernd, es war aber definitiv eine gute Entscheidung, ihn aus dem Roman wieder herauszunehmen. Klug ist der junge Mann natürlich auch. Es ist kaum auszuhalten.
Im Interview mit dem Diogenes Blog bezeichnet Benedict Wells „Die Wahrheit über das Lügen“ als literarisches „Mixtape“, als „Spielwiese“, und genauso liest es sich auch. Mit Humor und Hintersinn, aber auch mit der bereits besungenen Empathie und einer Nähe zu seinen Figuren weiß er mit der kurzen Erzählform genauso gut umzugehen wie mit der des Romans. Als Leser trifft man unter anderem auf ein über Jahre dauerndes Ping Pong Match, einen Geschäftsmann, dessen Leben buchstäblich in einem Augenblick an ihm vorbei zieht, eine Schriftstellerin und ihre blauhaarige Muse, eine alte Dame und ihren Kater Richard und eine Fliege in einem Limonadenglas, die bei einer schwerwiegenden Entscheidungsfindung hilft. Das Herzstück ist die Geschichte „Das Franchise“, in der Wells, selbst großer Star Wars Fan, die Lebensgeschichte eines Zeitreisenden entspinnt, dessen Lebenswerk darauf beruht, dass er die Idee für das größte Franchise der Welt von George Lucas geklaut hat. Extrem clever durchdacht und sehr amüsant.
Ein wirklich bösartiger Online-Rezensent schrieb damals zu „Vom Ende der Einsamkeit“, Benedict Wells müsse sich endlich von seiner Heimkind Problematik lösen, sonst hätte er sich als Schriftsteller schnell erschöpft. Das ist natürlich der größtmögliche Schwachsinn und ungefähr so berechtigt, als wolle man John Irving vorwerfen, er würde zu viel übers Ringen schreiben. Wieviel emotionale Kraft für ihn in dem Thema steckt beweist Wells schon in der kurzen Geschichte „Das Grundschulheim“. Vielleicht ist inzwischen das Thema für ihn ja auch genug behandelt, für mich kann er darüber aber schreiben so viel er möchte – zumal er dabei nicht den Anspruch erhebt, autobiografische Themen abzuarbeiten sondern versucht, aus situationsverwandten Emotionen zu schöpfen. Das tut er stets ganz pur und uneitel. Sein Spaß am Erzählen, am spielerischen Umgang mit Themen und Figuren, wird in den zehn Geschichten aus „Die Wahrheit über das Lügen“ noch einmal deutlich. Sie treffen einen nicht mit der ganz großen Wucht, sondern eher mit einem Schmunzeln im Mundwinkel und waren damit genau das, was ich nach der vorangegangenen Monsterlektüre gebraucht habe. Sagte ich schon, dass ich verliebt bin? Im besten, literarischen Sinne natürlich.

Info: „Die Wahrheit über das Lügen“ von Benedict Wells sind, wie alle seine Bücher im Diogenes Verlag erschienen. Weitere Informationen und eine Leseprobe gibt es hier. 

Gelesen von: Gabi Rudolph

www.diogenes.ch
www.benedictwells.de