Als ich mit circa 13 Jahren angefangen habe meine eigenen Geschichten zu schreiben, spielten diese immer in Amerika. Die Kids aus „21 Jump Street“ und „Beverly Hills 90210“, die Teenie-Komödien von John Huges, das war meine Welt, waren die Geschichten, mit denen ich aufgewachsen bin. Wenn ich geschrieben habe, wollte ich dorthin flüchten. Die Realität der bairischen Provinz hatte ich schließlich jeden Tag zur Genüge um mich herum.
Irgendwann nahm ich meinen Mut zusammen und zeigte ein paar meiner Geschichten meiner damaligen Deutschlehrerin, zu der ich ein gutes Verhältnis hatte. Sie lobte meine Fantasie, meine lebendige Erzählweise und meinen wie sie fand bereits recht sicheren Stil. Das einzige was sie zu bemängeln hatte war, dass ich mich dafür entschieden hatte, die Handlung in die USA zu verlegen. Ich weiß noch genau was sie sagte: „Das bist nicht du, das ist zu weit weg von dir. So kann das nicht authentisch sein.“ Was die Authentizität angeht, kann man ihr nicht wirklich absprechen recht zu haben. Ich war als Kind einmal in den USA gewesen, aber nie an einer amerikanischen Highschool. Ich kannte keine amerikanischen Teenager persönlich und hatte keine Ahnung wie sie wirklich ticken. Das Wort „Klischee“ fiel auch im Gespräch. Ich wusste, dass sie ein Stück weit recht hatte, aber ein bisschen beleidigt war ich trotzdem.
Vielleicht ist das einer der (vielen) Gründe, warum ich Benedict Wells so feiere. Gut, er ist keine 13 mehr, und im Gegensatz zu mir war er schon oft und viel in den USA unterwegs. Trotzdem war er noch nie ein amerikanischer Teenager, der in den achtziger Jahren im mittleren Westen der USA aufwächst. Aber wenn es ihm ein Anliegen ist, aus der Perspektive eines solchen zu schreiben, dann macht er das einfach. Schon 2011 erzählte er in seinem dritten Roman „Fast Genial“ die Geschichte eines Jungen, der mit seiner Mutter in einem Trailerpark aufwächst und erfährt, dass sein leiblicher Vater ein Genie ist und machte daraus einen Roadtrip durch die USA. In seinem neuesten Roman „Hard Land“ schlüpft er in die Haut des 16 jährigen Sam, einem schüchternen Nerd, der Mitte der Achtziger in Grady, einem Kaff in Missouri aufwächst. Die Liebe zur amerikanischen Jugendkultur der Achtziger Jahre springt einen hier auf jeder Seite an.
Unauthentisch? Who cares. Oder man könnte auch sagen: Benedict Wells hat mit „Hard Land“ die Unauthentizität zur vollendeten Kunstform erhoben. „In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb“ ist der Satz, mit dem Sams Geschichte beginnt. Erste Sätze werden in „Hard Land“ noch eine besondere Rolle spielen, und wie sich irgendwann herausstellt ist schon dieser schöne, alles sagende erste Satz eine Referenz. Kirstie Andretti, das Mädchen in das Sam sich verliebt, hat ein Faible für erste Sätze, und irgendwann fällt auch der aus Charles Simmons‘ Roman „Salzwasser“: „Im Sommer 1963 verliebte ich mich, und mein Vater ertrank.“ „Salzwasser“ ist erst 1998 erschienen, worauf Benedict Wells im Nachwort der Korrektheit halber hinweist. Dass er sich seiner dennoch bedient ist exemplarisch dafür, dass in „Hard Land“ die Authentizität der Fakten weniger eine Rolle spielt als die der Emotion. Und wenn es mit irgendetwas hier verschwenderisch zugeht, dann mit letzterer.
„Hard Land“ verfügt über alle Zutaten, die auch einen guter Teenie-Film ausmachen. Sehnsucht, durch Schicksalsschläge schmerzhaft herbeigeführtes Erwachsenwerden, sexuelles Erwachen, das Gefühl von Aufbruch und die Bedeutsamkeit der Freundschaft. In dem Sommer, in dem seine Mutter stirbt, verliebt sich Sam nicht nur, er schließt auch zum ersten Mal richtig Freundschaft. Als er sich einen Nebenjob sucht, trifft er im Kino des Ortes auf seine künftigen Kollegen Kirstie, die Tochter des Besitzers, auf Brandon, genannt Hightower, den Football-Star der Highschool und auf Cameron, der sich noch nicht so richtig festlegen möchte, aber zumindest auch eine Schwäche für Männer hat. Auch das Kino ist, wie so vieles in „Hard Land“ ein symbolischer Ort, das, ebenso wie Sams Kindheit, seinem unaufhaltsamen Ende entgegen schreitet. Während Sam nach den Sommerferien zurück auf die Highschool muss, erleben Kirstie, Hightower und Cameron ihren letzten Sommer in Grady, bevor es ans College geht. Die drei sind ein eingeschworenes Team, das nach und nach ein wenig Platz für den jüngeren, schüchternen Sam in seiner Mitte macht. Gemeinsam mit ihnen sieht er Filme, feiert Parties, besteht Mutproben, sie versuchen ihn aufzufangen, als seine Mutter stirbt. Und natürlich wird Kirstie Sams erste große Liebe, blond mit dunklen Augenbrauen ist sie, mit Zahnspange und einer Zahnlücke, von der Sam hofft, dass sie die Zahnkorrektur überleben wird. Sein Herz hat sich kein einfaches Ziel ausgesucht, denn Kirstie ist älter als er, ein wenig undurchschaubar und unstet im Wesen, sie hat einen Freund und möchte sich sowieso an niemanden mehr wirklich binden, bevor sie im Herbst in New York ein neues Leben anfängt.
Irgendwann sehen die vier Freunde im Kino gemeinsam den Film „Zurück in die Zukunft“. Robert Zemeckis Filmklassiker spielt in „Hard Land“ mehr als nur eine Rolle. Dass seine Angebetete Kirstie den ebenfalls eher kleinen und schmalen Michael J. Fox sexy findet, ist eine Offenbarung für Sam, der sich in seiner Jungenhaftigkeit ihr gegenüber stets ein wenig unzulänglich fühlt und sorgt bei ihm für einen ordentlichen Ego-Boost. Aber auch inhaltlich ist die Geschichte voller Querverweise auf den Film, wie Sams großer Moment bei der Beerdigung seiner Mutter (samt E-Gitarre) oder seine kathartische Begegnung mit dem Schul-Bully Chuck Bannister. Was auf den ersten Blick wie eine locker aus der Hüfte erzählte Coming of Age Geschichte daher kommt, ist bei näherem Hinsehen mit nerdiger Akribie konzipiert und strukturiert – und gleichzeitig mit ganz viel Herzblut erzählt.
49 Geheimnisse gäbe es in der Stadt Grady zu entdecken, verspricht das Schild am Ortseingang. Ein paar davon wird Sam entdecken, zum Teil dank Kirsties Mithilfe, und gleichzeitig wird er herausfinden, dass jeder ein Stück weit seine eigenen 49 Geheimnisse hat. 49 Kapitel hat, ganz nebenbei, auch Sams Geschichte. Und Benedict Wells‘ größtes Geheimnis ist vielleicht, warum das alles so bewundernswert gut funktioniert, ohne je zu zu naiv emotional oder zu kunstvoll konstruiert zu wirken. Mein heutiges und mein 13 jähriges Ich, wir verneigen uns auf jeden Fall vor ihm.
„Hard Land“ von Benedict Wells ist im Diogenes Verlag erschienen. Eine Leseprobe gibt es hier.
Zur Untermalung des Lesegenusses hat Benedict Wells auf Spotify einen Soundtrack zu „Hard Land“ zusammengestellt:
Foto © Roger Eberhard