Gelesen: André Aciman „Fünf Lieben lang“

„Call Me By Your Name“  war eines der Kinoereignisse des Jahres 2017. Der Film von von Luca Guadagnino erhielt 70 Filmpreise und war für weitere 200 nominiert, inklusive dem Oscar für den besten Film und einer Nominierung für Timothée Chalamet als bester Hauptdarsteller. Aber vor allem, und das ist noch viel wichtiger als jeder Filmpreis, ist „Call Me By Your Name“ ein Film, der viele Herzen rührte – und heilte. Die Liebesgeschichte zwischen dem Teenager Elio und dem älteren Doktoranden Oliver ist eine der einfühlsamsten, leichtesten und romantischsten des queeren Kinos. Selten wurde eine schwule Liebesgeschichte mit so viel Gespür für Akzeptanz und das Ausleben der ersten großen Liebe fernab jeglicher Geschlechter-Definitionen inszeniert. 

Die gleichnamige Vorlage zu Guadagninos Film stammt aus dem Jahr 2007 und der Feder des amerikanischen Schriftstellers André Aciman. Auch der Roman genießt inzwischen Kultstatus. André Acimans zum Teil außergewöhnlich poetische Sprache (ohne dabei gewollt oder von oben herab zu wirken), sein Einfühlungsvermögen für den 17 jährigen Protagonistin und nicht zuletzt seine Sinnlichkeit machen ihn zu einem besonderen Leseerlebnis. Nun ist von André Aciman ein weiterer Roman in deutscher Übersetzung erschienen. In „Fünf Lieben lang“ kann man viel von dem wieder entdecken, was Acimans Kunst ausmacht. Er hat unleugbare Stärken, aber leider auch ein paar erzählerische Schwachstellen, die verhindern, dass er einen so stark berührt wie „Call Me By Your Name“. 

Alles beginnt wieder in Italien. Student Paul, der seine halbe Kindheit auf der Insel San Giustiniano verbracht hat, kehrt nach Jahren alleine auf die Insel zurück, offiziell um nach dem Grundstück seiner Eltern zu sehen, nachdem das Haus der Familie vor einigen Jahren abbrannte. Aber eigentlich begibt er sich auf die Spuren seiner ersten Liebe, dem Tischler Nanni, dem er einst als zwölfjähriger dabei assistierte, einen Sekretär aus dem Besitz seiner Familie zu restaurieren und der in ihm sowohl die ersten romantischen Gefühle als auch die ersten körperlichen Begehren weckte. Von dieser Rückschau aus lebt und liebt sich Paul durch die weiteren Lieben seines Lebens. Dabei scheren sich seine Gefühle nicht darum, ob es sich bei seinem Gegenüber um Mann oder Frau handelt. Als er glaubt, seine Lebensgefährtin Maud beim Betrug ertappt zu haben, beginnt er sich seiner eigenen Sehnsucht für seinen Tennispartner Manfred zu stellen. Später, als er mit Manfred in einer Beziehung lebt, begegnet ihm Chloe wieder, mit der ihn eine Liebe aus College-Zeiten verbindet. Immer wieder flammt diese Liebe auf, aber beide schaffen es nicht, sie zur Erfüllung zu bringen. Und zuletzt, in der Mitte seines Lebens angekommen, trifft er auf die jüngere Journalistin Heidi. Aber auch hier scheitert Paul daran, seine Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Die regelmäßigen Treffen in einem New Yorker Café wollen einfach auf kein romantisches Ziel hinführen. Ex-Partner Manfred erinnert Paul daran, wie zögerlich damals die Annäherung zwischen ihnen stattfand und versucht, als Beziehungsratgeber zu fungieren. 

Die größte Stärke von „Fünf Lieben lang“ ist, wie unbeeindruckt Paul dem Geschlecht seines jeweiligen Objekts der Begierde gegenüber steht. Seine Gefühle sind immer gleich intensiv und sinnlich, eine Krise über die sexuelle Identitätsfindung findet bei ihm nicht statt, egal ob er es mit einem Mann oder einer Frau zu tun hat. Es ist der Mensch, der ihn interessiert, und das stets mit einem gewissen Hang zur Obsession. Hierin besteht leider auch das größte Problem von Acimans Erzählung. Pauls Liebe ist mehr obsessiv als intensiv, manches mal fragt man sich, ob er, selbst im fortgeschrittenen Alter, den Unterschied zwischen Liebe und Begehren überhaupt schon herausgefunden hat. Es scheint ihm auch nie möglich, über längere Zeit den Zustand zufriedener Zweisamkeit aufrecht zu halten. Jede seiner Lieben verspricht die große zu sein, die wahre, ersehnte Erfüllung – bis sie von der nächsten abgelöst wird. Spätestens als er an der Unmöglichkeit einer Annäherung an Heidi verzweifelt, verzweifelt man auch an Paul. Hat er denn in all den Jahren, in all den Lieben gar nichts dazu gelernt? So gelingt „Fünf Lieben lang“ leider nicht, was „Call Me By Your Name“ so meisterhaft geschafft hat – Liebe und körperliche Leidenschaft als Koexistenz zu erzählen, mit der gleichen Intensität und Ernsthaftigkeit. 

Ende Oktober erscheint auf Englisch André Acimans neuester Roman „Find Me“, der die Geschichte von Elio und seinem Vater Samuel weiter erzählt. Man darf darauf gespannt sein, denn daran, dass André Aciman ein Meister des sinnlichen Erzählens ist, ändert auch  die Distanz nicht, die man zu seinem Paul in „Fünf Lieben lang“ empfinden mag.

„Fünf Lieben lang“ von André Aciman ist in deutscher Übersetzung bei dtv erschienen. Eine Leseprobe gibt es hier.

www.dtv.de