Jetzt mal die Karten auf den Tisch: Ich liebe Arcade Fire. Es gibt wirklich wenige Bands, zu denen ich seit so vielen Jahren eine derart emotionale Bindung habe. Weil sie das personifizierte Gegenteil von langweilig sind. Weil sie wie keine andere Band die Kunst beherrschen, sich auf verblüffende, oft unerwartete Weise weiterzuentwickeln und dabei gleichzeitig immer sie selbst sind. Weil sie dort erst anfangen, wo andere aufhören. Das Universum von Arcade Fire, das läuft schon ganz schön parallel zu den meisten anderen.
Ich stelle das jetzt mal so explizit hin, weil ich es wichtig finde, für seine Euphorie einzustehen. Ich werde nämlich das Gefühl nicht los, dass es heutzutage nicht mehr „hip“ ist, aus vollem Herzen begeistert zu sein. Immer öfter begegnet mir diese zurückgelehnte „Mir-macht-so-schnell-keiner-was-vor“-Haltung, dieses Bedürfnis, alles aus einer ironischen Distanz heraus zu betrachten. Ich lasse mir eigentlich ganz gerne was vor machen. Und am liebsten so kunstvoll und leidenschaftlich wie von Arcade Fire.
Ein Manifest der logischen Weiterentwicklung
Die stehen jetzt mit ihrem fünften Studioalbum „Everything Now“ in den Startlöchern, das am 28. Juli bei Sony Music erscheint. Und oh weia – es hört sich schon wieder so gar nicht an wie „Funeral“, jenes magische Album, das der Band 2004 den Durchbruch bescherte. „Everything Now“ ist das vielleicht tanzbarste, poppigste Album, das Arcade Fire je veröffentlicht haben. Es ist aber auch ein Manifest der logischen, konsequenten Weiterentwicklung einer Band, die stets die Herausforderung sucht – genau das Album, das nach dem 2013er Vorgänger „Reflektor“ an dieser Stelle erscheinen muss. Auch wenn Arcade Fire durch den Mut, mit dem sie sich in fremde Gewässer wagen, immer wieder ehemalige Jünger enttäuscht am Straßenrand zurücklassen werden. Man muss schon bereit sein mit zu schwimmen.
Ein neues Arcade Fire Album zum ersten Mal zu hören, sollte entsprechend zelebriert werden. In der heutigen Zeit erscheint nichts schwerer, als sich eine Stunde Zeit dafür zu nehmen, nichts anderes zu tun als Musik zu hören. Manchmal ist es schlichtweg unmöglich. Gleichzeitig ist es genauso schwer bis unmöglich, sich ernsthaft von dem Genuss von „Everything Now“ ablenken zu lassen. Schon beim ersten Hören zieht es einen magisch an, es fordert sie regelrecht ein, die ungeteilte Aufmerksamkeit. Da bleibt das Mittagessen zur Hälfte auf dem Teller liegen und wird kalt. Kann man auch von Luft, Liebe und Musik leben? Für diesen Moment scheint es möglich.
Spontaner Knall, langer Nachhall
Ein Arcade Fire Album vereint im Idealfall diese beiden seltenen Eigenschaften: es knallt auf Anhieb rein und hallt trotzdem lange nach. Nach dem ersten Hören von „Reflektor“ war ich den Rest des Tages zu keiner nennenswerten Konzentration mehr in der Lage. Dreieinhalb Jahre und viele, viele „Reflektor“ Hörerlebnisse später, würde ich alles, was ich direkt nach dem ersten Durchlauf über das Album geschrieben habe, noch genau so unterzeichnen. Vielleicht machen Arcade Fire einem doch einfach nichts vor.
Bei „Everything Now“ wird das noch einmal besonders deutlich. Arcade Fire haben im Zuge einer Albumankündigung noch nie so viele Singles vorab veröffentlicht. Gleich vier Songs sind bereits erschienen: Die erste Single „Everything Now“, „Creature Comfort“, „Signs of Life“ und zuletzt das von Régine Chassagne gesungene „Electric Blue“. Alle vier für sich sind, ohne Frage, starke Songs, die zudem ein deutliches Bild der bereits besungenen Weiterentwicklung der Band geben – mehr hin zu elektronischen Spielereien, zum eingängig poppigen Songwriting, zu absurd mutigen Referenzen, bei denen schon mal ABBA in den Topf geworfen wird. Faszinierend ist aber, dass alle Songs erst im Gesamtkonstrukt des Albums ihre wahre Kraft entfalten. Als bräuchten sie den Kontext, die Dramaturgie, die Arcade Fire auf ihren Alben entwickeln, um endgültig in allen Farben zu schillern. „Electric Blue“ ist dafür ein wahres Paradebeispiel. Es war für mich zuerst diejenige der Vorabsingles, die sich als einzelne am wenigsten erschließt. Ein guter Song, ohne Frage, aber wo seine Position innerhalb des leuchtenden Arcade Fire Universums ist, zeigt sich beim isolierten Hören nicht auf Anhieb. Im Gesamtkonstrukt „Everything Now“ ist „Electric Blue“ letztendlich einer der wichtigsten Songs – er steht für den Moment, in dem die Stimmung kippt.
Wilde Party im Nimmerland
Der Bogen der sich auf „Everything Now“ spannt ist nicht unähnlich dem, den Arcade Fire auf dem Vorgänger „Reflektor“ kreiert haben. Zu Anfang geht es direkt in die Vollen. In der ersten Albumhälfte trifft geballte Tanzbarkeit auf musikalisches Nerdtum. Die Anzahl der Referenzen ist dabei so vielfältig wie absurd. In „Chemistry“ führt eine Bläserfraktion durch einen Song, der mit einem Reggae-Beat angeschlurft kommt und sich ab der Hälfte zu einem funkigen Biest entwickelt. „Peter Pan“ entzieht sich von der Produktion her gleich jeglicher Einordnung. Ein bisschen Reggae, ein wummernder Bass, ein zärtlich plinkerndes Klavier. So richtig verstehen was Arcade Fire da machen und dass das alles alles andere als zufällig ist, kann man am besten, wenn man einmal ein DJ Set von Frontmann Win Butler erlebt hat. Der nerdet sich als DJ nämlich mächtig durch die absurdesten Stilmixe – von Afrobeat über Reggae zu Hip-Hop bis Industrial und Wave. Es gibt auch eine Playlist auf Spotify, die Butler täglich um seine aktuellen Inspirationen ergänzt, dort kann man das auch sehr schön verfolgen. Am Ende kommt dann ein Song wie „Peter Pan“ dabei raus, der all das in wunderbarster Schizophrenie vereint. Nimmerland wird zu einer wilden Party, auf der schlichtweg alles möglich scheint. Als wäre das nicht schon verrückt genug, folgen ein Punk- und ein Country-Moment, die sich quasi im gleichen Song („Infinite Content“) treffen.
Songs, die man in Watte packen möchte
Nachdem man sich in der ersten Hälfte von „Everything Now“ ordentlich durchschütteln lassen durfte, folgt also der bereits angekündigte Bruch nach „Electric Blue“. Und wieder zeigen Arcade Fire, wie man ein Album dem Höhepunkt entgegen treibt, ohne immer weiter an der gleichen Schraube zu drehen, sondern einfach indem man das Tempo raus nimmt. Hier lauern sie wieder, die ganz großen Momente. Wenn es so richtig in die Tiefe geht, wenn Win Butler klagt und Régine Chassagne wie die Stimme des Trostes im Hintergrund schwebt. Da entsteht so viel Zärtlichkeit, so viel Sehnsucht, so viel Traurigkeit aber auch diese unvergleichliche Schönheit, die sich in Songs wie „Put Your Money On Me“ und „We Don’t Deserve Love“ offenbart. Man möchte sie aus den Lautsprechern heraus holen und in Watte packen, damit sie nicht kaputt gehen. Gegen die am Ende ins kalt gewordene Essen tropfenden Tränchen hilft nur eins: nochmal von vorne anfangen.
In den Wochen vor der Albumveröffentlichung und während ihrer Europa Tournee haben Arcade Fire die „Everything Now Corporation“ erfunden, eine angebliche Firma, die der Band ihr Vorgehen diktiert, um zum größtmöglichen kommerziellen Erfolg zu gelangen. Dabei prägte sich auch der Begriff vom „Infinite Content“, der als Titel auf dem Album vertreten ist und angeblich „infinitely content“ macht. Entsprechend bilden auch Intro und Outro von „Everything Now“ eine Klammer, die das Album beim Hören auf Repeat zu einer Endlosschleife werden lässt. Die größtmögliche Zufriedenheit durch den größtmöglichen Konsum ist außerdem inhaltlich das Thema, das sich deutlich durch die Songs von „Everything Now“ durchzieht. Hinter all der Ironie steckt aber auch nahezu erschreckend viel Wahrheit. Es herrscht unendlich viel Zufriedenheit in dem Konsum dieser Musik.
Ich weiß, das alles liest sich völlig unkritisch. Vielleicht hat die Everything Now Corporation mich ja erfolgreich gebrainwasht. Dafür brauche ich keine anderen Drogen. Ich tanze einfach weiter infinitely content durch die Gegend.
VÖ: 28.07.2017
Gehört von: Gabi Rudolph