EUSEXUA von FKA twigs: „Ein kraftvolles und gefährliches Konzept“

FKA twigs definiert EUSEXUA, nicht nur der Titel ihres lang erwarteten dritten Albums, sondern eine ganze Lebensphilosophie, als „Schönheit und Ehrfurcht im Moment einer intensiven menschlichen Erfahrung“. Sie hofft, dass Menschen, die das Konzept wirklich annehmen, „ein Gefühl von Freiheit… von Befreiung mitnehmen“. Bei EUSEXUA, sagt sie, „geht es ums Überleben“.

Man kann verstehen, warum sie sich so fühlt. Twigs weiß sehr genau, dass der weibliche Körper der Ort ist, an dem die grundlegendsten Kämpfe des Feminismus ausgetragen werden. Er ist für Frauen der ultimative Ort der Ausbeutung und der Emanzipation. Ihr Körper, hat sie einmal gesagt, „musste mehr Schmerz durchmachen, als man sich vorstellen kann“.Dieser Schmerz wurde in den Medien ausführlich dokumentiert und hat vielleicht sogar ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten und Errungenschaften als Künstlerin überschattet. Auch wer ihre Musik nicht kennt, wird vielleicht von dem Leid gehört haben, das sie erfahren musste. 

Was es bedeutet, eine selbstermächtigte Frau zu sein

Zuerst war da der Rassismus, den sie von Fans des Hollywood-Schauspielers Robert Pattinson ertragen musste, als sie zuerst mit ihm ausging und später mit ihm verlobt war. Die absurde Logik der Fans war, dass es twigs als schwarze Frau nicht zustünde, einen derart erfolgreichen und begehrten weißen Mann zu daten. Einen Teil ihres Schmerzes verarbeitete sie auf ihrem gefeierten zweiten Album, MAGDALENE. Dann kam Shia LaBoeuf, den sie seit 2020 zu verklagen versucht, weil er sie innerhalb ihrer kurzen Beziehung mehrfach missbrauchte. Dazu gehörten Zwangskontrolle, körperliche Gewalt und das wissentliches Anstecken mit einer lebensbedrohlichen, unheilbaren sexuell übertragbaren Krankheit. Der Fall soll gegen Ende dieses Jahres endlich vor Gericht kommen. All dies hat twigs in den Medien als die tragische Promi-Freundin darstehen lassen. Sie ist es inzwischen gewohnt, von Paparazzi verfolgt zu werden, ständig beobachtet und öffentlich durchleuchtet zu werden, dass intimste Details ihres Lebens für makabre Memes und Berichterstattung missbraucht werden.

Twigs hat sich lange geweigert, als Opfer dargestellt zu werden, und sich jahrelang für die körperliche Freiheit von Frauen eingesetzt, bevor sie EUSEXUA konzipierte. Während der Pandemie startete sie eine Spendenaktion für Sexarbeiter*innen und unterstützte eine britische Kampagne, die die Regierung aufforderte, Sexarbeit zu entkriminalisieren. Sie sprach auch öffentlich über ihre eigenen Erfahrungen als Sexarbeiterin – als eine der wenigen weiblichen Prominenten, die dies je getan haben – und sagte, sie hätten ihr geholfen, eine starke Frau zu werden. Außerdem hätten sie ihre Kunst beeinflusst.

Die gleiche Stärke zeigte sie, als sie gegen ein Urteil der britischen Werbestandardsbehörde kämpfte, das entschied, dass ein halb-nacktes Bild von ihr, das sie für eine Calvin Klein-Kampagne genehmigte, sie als „stereotypisches Sexobjekt“ darstellte. Wieder einmal wurde ihr Körper zu öffentlichem Eigentum, dem Urteil und der Kontrolle anderer ausgeliefert. Sie legte Berufung gegen das Urteil ein und gewann, indem sie Vergleiche zwischen ihrer Kunst und visionären Frauen wie Grace Jones zog, die neue Standards dafür gesetzt hat was es bedeutet, eine selbstermächtigte Frau zu sein. „Ich werde meine eigene Geschichte von niemandem ändern lassen,“ sagte sie.

EUSEXUA liegt eine starke Erzählung zugrunde. Das Album entstand während der Zeit, die twigs in Prag nach der Pandemie verbrachte, wo sie vollkommen anonym leben konnte. Sie genoss die Freiheit, spontan sein zu können und, wie sie sagt, sich wieder mit den instinktiven Erinnerungen ihres Körpers (sie ist ausgebildete Tänzerin und hat mit zwölf Jahren angefangen, professionell zu tanzen) und der Beziehung, die sie in der Vergangenheit zu ihm hatte, zu verbinden. Sie verliebte sich in die queere Clubszene Prags und ließ sich für die elf Songs, die schließlich zu EUSEXUA werden sollten, von den Tracks inspirieren, zu denen sie dort tanzte. Es ist ein freudvolles Album, das die Stimmung weiter führt, die sie auf dem von Hip-Hop und Garage inspirierten Mixtape CAPRISONGS von 2022 erkundet hat.

Ein kraftvolles und gefährliches Konzept

EUSEXUA wird unvermeidlich mit Charli xcx’ bahnbrechenden Album „Brat“ verglichen, und es gibt tatsächlich Parallelen. Beide Alben sind Liebeserklärungen an die elektronische Tanzmusik; beide erkunden die Transzendenz, die man auf der Tanzfläche erleben kann. Beide haben, wenn auch nicht vollständig erfunden, so doch zumindest das populäre Verständnis eines Begriffs uneu definiert. EUSEXUA unterscheidet sich jedoch von Brat, weil es die Transzendenz im physischen Körper verortet, anstatt im Hedonismus des Clublebens. Jedem der elf Songs ist eine physische Bewegung oder „Säule“ zugeordnet, die sich zu dem zusammensetzen, was twigs als „11-Schritte somatisches Heilungsprogramm“ bezeichnet, das „roh und ursprünglich“ ist.

Der ein oder andere wird hier mit den Augen rollen. Und man muss dieses Konzept nicht annehmen oder den Kontext rund um twigs kennen, um EUSEXUA einfach als eine fantastische Sammlung von Dancetracks zu schätzen. Aber der Kontext ist entscheidend, um zu verstehen, dass EUSEXUA als Philosophie von einem ganz anderen Ort kommt als zum Beispiel das Goop-Wellness-Imperium, das von Gwyneth Paltrow aufgebaut wurde. Wir leben in einer Zeit, in der Frauen Sex vor der Kamera mit hunderten, tausenden Männern haben. In einer Zeit, in der Sex für Frauen immer noch, zu oft, nur nach außen gerichtete Performance und sehr wenig tatsächliches Vergnügen ist. Eine, in der brutale, körperverändernde Eingriffe und Operationen Frauen als normal verkauft werden.

Die Botschaft ist deutlich: Dein Körper ist dazu da, von anderen objektiviert zu werden, nicht für dein eigenes Vergnügen. Als Frauen waren wir vielleicht nie mehr von unseren eigenen Körpern entfremdet als jetzt. Stell dir die Revolution vor, die EUSEXUA auslösen könnte, wenn Frauen sich weigerten, zu performen und stattdessen höchstes körperliches Vergnügen für sich selbst beanspruchten? Man kann twigs’ Aussage kaum widersprechen, dass EUSEXUA „ein kraftvolles und gefährliches Konzept“ ist.

Und natürlich würde EUSEXUA nicht funktionieren, wenn die Musik nicht so gut wäre. Jeder Song fühlt sich ein bisschen so an, als würde man eine schöne Glasskulptur betrachten. Jeder Track verkörpert präzise Beats, makellose Produktion und die schwebenden, opernhaften Vocals, die so einzigartig für twigs sind. Wenn sie über ihre Liebe zur Musik der Neunziger spricht, nennt sie gerne den Shakespears Sister-Klassiker „Stay“ als eines ihrer Lieblingslieder. Die Wahl klingt ungewöhlich, bis man EUSEXUA hört und diese markante, zweigeteilte, Kontraststruktur in so vielen der Tracks wiedererkennt. Twigs spielt gerne mit den Erwartungen der Zuhörer: Eine langsamere Melodie bricht plötzlich in einen frenetischen Techno-Beat aus, wie in „Keep It, Hold It“, oder ein Song beginnt an einem Ort und endet an einem völlig anderen.

“When a girl feels good, it makes the world go round”

Die ersten beiden veröffentlichten Singles – der technoide Titeltrack und “Perfect Stranger” – könnten auf der Tanzfläche eines jeden queeren Superclubs bestehen. An anderer Stelle zeigt twigs, dass sie Pop machen kann, der an die „Ray of Light“-Ära von Madonna erinnert, mit dem hymnischen “Girl Feels Good” (“When a girl feels good, it makes the world go round”), “Striptease” und “Wanderlust”. Sie weiß, dass sie jederzeit voll auf Pop setzen und vielen der heutigen Chartstürmer Konkurrenz machen könnte, wenn sie es wirklich wollte. Andererseits hat sie zu viel Talent für herausragenden elektronische Tracks, wie das erstaunliche, Industrial-artige “Drums of Death” mit seinem verzerrten Gesang, der mit einem Aufruf endet: “Serve c**t, serve violence”

“Sticky” beginnt langsam, ganz Klavier und Falsettgesang, und bricht dann in dröhnenden, verzerrten Bass aus, während twigs singt: “I’m tired of messing up my life with overcomplicated moments and sticky situations. I want to release myself from the pain I have inside.” EUSEXUA feiert das Vergnügen, im eigenen Körper, im Moment präsent zu sein, das Vergnügen, den Finger gegen patriarchale Definitionen dessen zu erheben, wie guter Sex für eine Frau angeblich aussieht. Vergnügen, sagt EUSEXUA, kann sorgloser Sex mit einem Fremden sein, es kann das Rollenspiel eines unterwürfigen Tieres sein, wie in “24hr Dog”. Wichtig ist, dass du die Heldin deiner eigenen Geschichte bleibst und diese ganz für dich alleine schreibst. 

Der einzige musikalische Fehltritt ist vielleicht “Childlike Things”, ein ziemlich bizarres Duett mit North West (der 11-jährigen Tochter von Kanye und Kim Kardashian), auf dem Letztere aus unerklärlichen Gründen auf Japanisch rappt, und zwar auf eine Weise, die deutlich nach kultureller Aneignung riecht. Dennoch, wenn man rein die Musik betrachtet, kann man nicht leugnen, dass es ein fantastischer, eingängiger Dance-Pop-Song ist.

EUSEXUA wird sicherlich von jedem auf einer anderen Ebene wahrgenommen. Einige werden sich der gesamten Philosophie auf einer tiefen, spirituellen Ebene öffnen, wie twigs es beabsichtigt, und sich dadurch für immer verändern. Zweifellos wird das Album noch einmal ganz anders lebendig, wenn es live auf der Bühne performt wird: twigs hat seit der Pandemie, wegen der sie ihre geplante MAGDALENE-Tour im Jahr 2020 abbrechen musste, nicht mehr getourt, und es herrscht große Vorfreude auf die wenigen EUSEXUA-Shows, die stattfinden werden. Andere werden EUSEXUA einfach als ein brillantes Dance-Album schätzen, sich ab dem ersten Track hineingezogen fühlen und sich nicht mehr losreißen können, eine ähnliche Erfahrung wie Jamie xx’s aktuelles Album “In Waves”.

Eine Geschichte voller Transzendenz und Freude

Andere wiederum werden sicherlich das gesamte Konzept unerträglich prätentiös finden. Und es gibt sicher diejenigen, die sie beschuldigen werden, sich queere Clubkultur anzueignen. Das wäre hart. FKA twigs ist so lange an ihre tief in ihr verwurzelte Vergangenheit gebunden gewesen: Auf EUSEXUA Transzendenz und Freude zu verbreiten, scheint ihr wirklich wichtig zu sein. Die Unsicherheiten von Frauen werden jeden Tag finanziell, physisch und sexuell ausgenutzt. Wenn das Schlimmste, was wir über EUSEXUA als Philosophie sagen können, ist, dass es ein bisschen prätentiös ist, dann sei es so. Und mal ganz ehrlich: Lieber ein Album wie EUSEXUA als ein weiteres der unzähligen Sabrina Carpenter-Klone, die 2025 die Charts überfluten werden. Wir brauchen mehr Künstlerinnen wie twigs: Frauen, die sich und ihre Kunst zutiefst ernst nehmen, ungeniert Raum einnehmen mit kühnen, gewagten Aussagen, ihre Körper für sich selbst beanspruchen und neu zu definieren, wie wir über weibliche Wünsche und Verlange sprechen. All das sollte 2025 nicht derart bahnbrechend und erfrischend sein, aber leider ist es ist wirklich, wirklich so.

Der Artikel ist ursprünglich auf Englisch erschienen und wurde ins Deutsche übersetzt. Das Original könnt ihr hier lesen.

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