Dieser Film nervt. Und zwar im wörtlichen Sinne. Leicht ist er nicht zu ertragen, aber das soll er auch nicht sein. Die anhaltende Geräuschkulisse, vor allem in der ersten der zwei Stunden, die Nora Fingscheidts Debütfilm „Systemsprenger“ dauert, verleitet manche Zuschauer dazu, sich immer wieder die Ohren zuzuhalten. Schuld daran ist die neunjährige Benni und ihre Wut. Eine laute und lang anhaltende Wut. Benni schreit, sie benutzt Ausdrücke, die man noch nicht mal aus dem Mund eines Erwachsenen hören möchte. Sie wirft mit Gegenständen bis sogar Sicherheitsglas birst, sie prügelt sich und zerstört mutwillig das Spielzeug von Gleichaltrigen. Einmal kommt sogar ein Messer zum Einsatz. Wenn Benni einmal nicht schreit, bricht ein technoider, punkiger Soundtrack über die Zuschauer ein. Auf dem Höhepunkt der Wut färbt die Leinwand sich pink.
Die immer wiederkehrenden Wutanfälle muss man als Zuschauer genauso ertragen wie die Menschen, die versuchen für Benni einen Platz im System zu finden – Sozialarbeiter, Wohngruppenleiter, Ärzte, Lehrer, Schulbegleiter. Benni bekommt Medikamente, mit denen, wie wir gleich zu Anfang efahren, ihre verminderte Impulskontrolle eingedämmt werden soll. Nach den ersten Minuten weiß man schnell: es funktioniert offensichtlich nicht so richtig gut.
Man kann das repetitive Element, mit dem Bennis Ausraster immer wieder aufs Neue gezeigt werden, stilistisch als schwer auszuhalten empfinden, es vermittelt aber ein realistisches Bild der Herausforderung, der Bennis Umwelt sich jeden Tag gegenüber sieht. Da das Zusammenleben mit der Mutter und den zwei kleinen Geschwistern nicht funktioniert, hat das Jugendamt Benni aus dem familiären Umfeld heraus geholt. Inzwischen wird es immer schwieriger, eine Wohngruppe zu finden, in der man sich dem Umgang mit der Neunjährigen gewachsen sieht. 27 Absagen sind es zu Beginn des Films, und mit der Zeit werden es noch einige mehr. Es gibt keinen Platz für dieses Kind, nirgendwo kann es lange bleiben. Mehr als einmal fällt die Aussage, man müsse verhindern, dass Benni sich zu sehr emotional binde. Denn auch diese Station ist nur eine Übergangslösung.
In der zweiten Hälfte des Films kehrt ein klein wenig Ruhe ein. Das liegt vor allem an Bennis neuem Schulbetreuer Micha, der eigentlich mit gewalttätigen Jugendlichen arbeitet und selbst weiß, was unkontrollierte Wut bedeutet. Einmal, als Micha selbst in einer Situation ist, die seine Geduld herausfordert, drückt er seine Hände fest aneinander. Benni erkennt diese Geste sofort. Hier finden sich zwei, die sich verstehen und einander annehmen könnten. Nur leider ist auch hier eine Annäherung nur bis zu einem bestimmten Punkt möglich.
Nora Fingscheidt schaffte es mit ihrem ersten Langspielfilm direkt in den Berlinale Wettbewerb, und auf Anhieb fallen einem gleich mehrere Kategorien ein, in denen „Systemsprenger“ sich für eine Auszeichnung qualifizieren könnte. Den Leidensweg der nach gängigen Maßstäben nicht zu sozialisierenden Benni ist minutiös beobachtet. Das Umfeld, von der Sozialarbeiterin Frau Bafané (großartig: Gabriela Maria Schmeide) über Bennis Mutter (erschreckend glaubwürdig: Lisa Hagmeister) bis hin zu jedem einzelnen der Kinder, denen man in den diversen Einrichtungen, durch die Benni hindurch wandert begegnet – für alle Stationen und jede Figur findet Nora Fingscheidt die richtigen Bilder und den richtigen Ton. Und für den ohnehin schon wunderbaren Albrecht Schuch ist der selbst zwischen Aggression und Sensibilität schwankende Schulbegleiter Micha eine absolute Paraderolle.
Natürlich ist die große Sensation des Films die Darstellung der Benni durch die zum Zeitpunkt der Dreharbeiten neunjährigen Helena Zengel. Und das nicht nur wenn sie laut wird und man nicht umhin kann, sich vor ihrer Energie zu fürchten. Auch in den ruhigen Momenten, oder sogar besonders dann, wirkt sie, als habe sie die emotionale Situation ihrer Figur völlig durchdrungen. In einer Szene spricht Benni am Telefon mit ihrer Mutter und erfährt, dass sie heute nicht wie besprochen zu Besuch kommen wird. Was dabei im Gesicht des Mädchens passiert, bricht einem schlichtweg das Herz.
Gemeinsam mit ihrer Hauptdarstellerin gelingt Nora Fingscheidt in „Systemsprenger“ etwas, das ihn besonders schwer zu ertragen macht: dass man für diese Benni trotz allem einen Platz in seinem Herzen findet. Dass man die Rettungsfantasien, die Micha ihr gegenüber entwickelt, durchaus nachvollziehen kann. Und man aber gleichzeitig weiß, dass es so einfach nicht funktionieren wird. Wenn Benni Michas kleinen Sohn auf den Arm nimmt – nein, wenn man ehrlich ist, das würde man nicht wollen. Gleichzeitig stellt der Film die eigentlich wichtige Frage in den Raum: wer sprengt hier wen, das Kind das System, oder vielleicht doch umgekehrt? Auf jeden Fall sprengt dieser Film den Berlinale Wettbewerb. Mit einer Wucht, die bisher mit keinem anderen Beitrag vergleichbar ist.
Szenenfotos © kineo Film / Weydemann Bros. / Yunus Roy Imer