CHAI beim Pitchfork Music Festival Paris: „So tief verankerte Ansichten zu ändern braucht seine Zeit“

Als ich die japanische Band CHAI für mich entdeckt habe, war das eine kleine Offenbarung. Ich hatte gerade Makoto Nagahisas Jugendfilm „We Are Little Zombies“ gesehen, der in der Sektion Generation bei der diesjährigen Berlinale lief und war voller Begeisterung für die Schrägheit der japanischen Popkultur, die trotzdem so etwas herzliches hat und in ihrer kulturell speziellen Art, wenn man genauer hinsieht, ganz universelle Werte vermittelt. 

Bei meiner Recherche zu Makoto Nagahisas Arbeit bin ich dann auf CHAI gestoßen, für die der Regisseur den Videoclip zu „N.E.O.“ inszeniert hat, den Song, der die Message von CHAI direkt auf den Punkt bringt. Die Zwillingsschwestern Mana und Kana  setzen sich gemeinsam mit ihren Schulfreundinnen Yuuki und Yuna für Positivismus, Selbstliebe und vor allem für ein breiter aufgestelltes Schönheitsideal bei Frauen ein. „Du bist schön so wie du bist“, heißt es sinngemäß in „N.E.O.“. Deine Beine sind schön, egal ob sie lang oder kurz, dick oder dünn sind, deine Nase, deine Augen, egal welche Form sie haben, sind ein Teil deiner Persönlichkeit. Achselhaare? Dürfen gerne bleiben. Besonders in Japan ist die Kultur, Frauen und Mädchen in fest vorgelegte Schönheitsideale zu pressen, immer noch sehr ausgeprägt. „Kawaii“, niedlich, sollen Mädchen sein, und kawaii sind vor allem große Augen und lange Nasen, alles, was mehr in Richtung westliche Erscheinung geht. Also haben CHAI es sich zur Aufgabe gemacht, die Definition von „kawaii“ auszuweiten und als Leitspruch für ihre Band den Begriff „neo kawaii“ etabliert – schön ist auch und vor allem alles, was nicht den gängigen Normen entspricht.

Die Songs von CHAI sind, passend zu ihrer Message, extrem energetisch, irgendwo zwischen Punk, Electro und K-Pop lassen sie sich stilistisch ansiedeln. Auf der Bühne explodieren die Mädels nur so vor Energie und Spaß an der Sache. Und auch als ich die vier beim Pitchfork Music Festival Paris in ihrem Backstage treffe sind sie, man kann es getrost so formulieren, krachend gut drauf. Obwohl CHAI nun schon seit bald drei Jahren international unterwegs sind, gibt es da immer noch gewisse Sprachbarrieren. Ich kann zum Eingang des Gesprächs mit ein paar Brocken Japanisch beeindrucken, die über die Vorstellung meines Namens und meiner Herkunft aber nicht weiter hinaus gehen („Potato!“ rufen alle vier voller Begeisterung, als ich erzähle, dass ich aus Deutschland komme). Mana, Kana, Yuuki und Yuna verstehen ein wenig Englisch, auf jeden Fall mehr als ich Japanisch, die hinzugerufene Übersetzerin hingegen spricht zwar natürlich Japanisch, aber mehr Französisch als Englisch und meine Französischkenntnisse sind, nun ja… das Problem stellt sich, denke ich, ziemlich gut dar. Aber macht nichts! CHAI wären nicht CHAI, wenn sie nicht gewillt wären, sich dieser Herausforderung mit sehr viel Elan zu stellen. Und so gelingt es mir am Ende doch, ein bisschen mehr über sie zu erfahren.

CHAI betonen sehr nachdrücklich, dass 2019 ein besonderes Jahr für sie war. „Wir haben Shows auf der ganze Welt gespielt. Es war ein einziger Traum, der für uns wahr wurde“, erzählt Bassistin Yuuki. „Eins unserer größten Highlights war, dass wir ein Tiny Desk Konzert spielen durften. Das haben wir uns schon immer gewünscht.“ Und auch beim Pitchfork Music Festival hier in Paris zu spielen ist für sie eine besondere Freude. Der internationale Erfolg von CHAI ist stark an Pitchfork geknüpft, seitdem das Debütalbum „PINK“ es dort 2017 in die Liste der besten Alben des Jahres schaffte. Auch beim ursprünglichen Pitchfork Music Festival in Chicago spielte die Band dieses Jahr ein umjubeltes Set. 

Offiziell gegründet wurde CHAI im Jahr 2015, Freundinnen sind die vier, wie sie sagen, schon gefühlt ihr ganzes Leben lang. Von der Gründung bis zu den ersten internationalen Auftritten scheint es für die Band recht schnell gegangen zu sein. Den Startschuss dafür, so erzählen sie mir, war ein Wettbewerb, den sie in Japan gewannen und dadurch die Möglichkeit erhielten, in Texas beim legendären SXSW Festival aufzutreten. Von dort aus folgten schnell Konzerte auf der ganzen Welt. Zu einem der besten Orte, auf dem sie jemals spielen durften, zählen CHAI unter anderem das Primavera Sound Festival in Barcelona, für das wir eine große Begeisterung teilen. Jedes mal, wenn wir feststellen, dass wir über etwas einer Meinung sind, gibt es laute „Jaaaa!“ Rufe, Klatschen und Gelächter. Ich könnte den ganzen Abend damit verbringen, mit den Mädels um die Wette zu lachen.

Auch wenn sie einer japanischen Tradition entstammt, ist die Message von CHAI doch eine universelle. So ziemlich jeder auf der ganzen Welt kann sich damit identifizieren, wie schwer es sein kann, sich selbst so zu akzeptieren und zu lieben wie man ist. Dass sie damit einen derart globalen Nerv treffen würden, war ihnen nicht bewusst, als sie angefangen haben, ihre Songs zu schreiben. „Das wussten wir wirklich nicht“, sagt Schlagzeugerin Yuna. „In Japan ist es ein Thema, das sehr polarisiert. Wie es international aufgenommen werden würde, war uns nicht bewusst. Umso mehr freut es uns, wenn überall auf der Welt Menschen auf uns zukommen und sagen, wir würden ihnen aus der Seele sprechen.“
Aber gibt es denn schon Fortschritte im Kampf gegen das klassische Kawaii-Bild? Mich interessiert, ob sie in den letzten Jahren eine Veränderung spüren konnten, wie Frauen in Japan wahrgenommen werden. Die Antwort fällt zuerst eher kurz aus. „Ein bisschen“, heißt es mit einem leichten Schulterzucken. Aber dann fügt Kana hinzu: „Die japanische Idee von kawaii hat eine lange Tradition. So tief verankerte Ansichten zu ändern, das braucht seine Zeit. Aber wir haben das Gefühl, dass unsere Message in Japan gut aufgenommen wird. Von daher haben wir die Hoffnung, dass sich auf die Dauer etwas ändern wird“. 

Als CHAI später am Abend beim Festival auftreten, tobt das Publikum im kleinen Saal der Grande Halle de la Villette. Die Show ist sowohl musikalisch als auch optisch extrem mitreißend. Im Frühsommer haben CHAI ein Konzert in Berlin gespielt, und sie jetzt in Paris zu sehen macht noch einmal deutlich, dass die Mädels sehr engagiert daran arbeiten, ihre Bühnenshow stetig zu verbessern. Es gibt Tanzeinlagen, neue Songs, Kostümwechsel, eine japanische Coverversion von Culture Clubs „Karma Chameleon“ und vor allem eine sehr versierte, musikalische Energie. CHAI sind mehr als nur ein Spaß, sie sind eine hart arbeitende Band, die das internationale Forum, das sie sich in den vergangenen Jahren erarbeitet hat, sehr ernst nimmt und sich ihrem Publikum verpflichtet fühlt. 

Und wie bringt man bei dem Pensum immer wieder die Energie auf, die CHAI sowohl auf der Bühne als auch im Gespräch verbreiten? Die Antwort kommt einstimmig: „Food!“ lachen und rufen die vier im Chor. „Wir essen sehr viel. Am liebsten immer noch Sushi und koreanisches Barbecue. Bratwurst finden wir auch gut.“ 

Ohne Frage, nach so einer Begegnung mit CHAI fühlt man sich ganz schön kawaii – neo kawaii, natürlich! 

Foto © Vincent Arbelet für Pitchfork Music Festival Paris

www.chai-band.com