Bei der diesjährigen Berlinale haben uns zwei Filme besonders begeistert, die von einer deutschsprachigen Regisseurin und einem deutschsprachigen Regisseur mit einem internationalen Cast realisiert wurden.
„The Outrun“ von Nora Fingscheidt
Nora Fingscheidt sorgte 2019 bei der Berlinale mit ihrem Debütfilm „Systemsprenger“ für Aufsehen, der den qualvollen Weg eines 9-jährigen Mädchens nachzeichnet, welches in keiner Institution, keiner Pflegefamilie und keiner Therapieeinrichtung dauerhaft Schutz und Hilfe erfährt. Mit ihrem neuen Film „The Outrun“ kehrte sie zurück auf die Berlinale, diesmal jedoch nicht in den Wettbewerb. Da die Premiere von „The Outrun“ bereits im Januar beim Sundance Festival stattfand, lief der Film in der Sektion „Panorama“ – damit blieb einer der aufregendsten und berührendsten Filme des Festivals leider ein wenig unter dem Radar.
„The Outrun“ basiert auf dem gleichnamigen autobiografischen Roman der schottischen Autorin Amy Liptrot, die darin über ihre Alkoholabhängigkeit schreibt, im Film wird die Rolle der Rona verkörpert von Saoirse Ronan. Schon in den ersten Szenen wird deutlich, dass sich hier Thema, Regie und Hauptdarstellerin auf kongeniale Weise gefunden haben. Rona ist auf ihre Art auch ein Systemsprenger – die Biologiestudentin schafft es nicht (und strebt es auch nicht wirklich an), sich in ein geregeltes, lineares Leben zu fügen. Statt sich auf ihr Studium und ihre Tätigkeit als Laborantin zu konzentrieren, sucht sie Zuflucht im Exzess, der Alkohol erscheint dabei wie ein zuverlässiger Freund, der Rona jedoch zunehmend in den Abgrund zieht. Als eine durchzechte Nacht in der Notaufnahme endet, entscheidet sie sich für ein Entzugsprogramm und begibt sich zurück in ihre Heimat, auf die schottischen Orkney-Inseln, wo ihr Vater, der an einer bipolaren Störung leidet, eine Lämmerzucht betreibt, während ihre Mutter sich, selbst auf der Suche nach Heilung und Absolution, dem Glauben und der Kirchengemeinde zugewandt hat.
Ronas Geschichte springt auf verschiedenen Zeitebenen hin und her, was für ein manchmal nahezu unerträgliches Wechselspiel der Gefühle sorgt. Dem idyllischen Leben in der Zurückgezogenheit der schottischen Inseln stellt Fingscheidt immer wieder gnadenlos Ronas Ausbrüche und Abstürze im dagegen feindselig wirkenden urbanen Leben Londons gegenüber. Dank der genauso mutigen wie sensiblen Inszenierung und Saoirse Ronans ergreifendem Spiel, sieht man sich als Zuschauer*in Ronas Leid nahezu schutzlos ausgeliefert. „The Outrun“ zeigt schmerzlich, wie schwer sich Menschen tun, die nicht im von der Gesellschaft vorgegebenen Zeitrahmen einen stabilen Lebensweg finden und dass die Alkoholsucht, wenn sie erst einmal da ist, ein lebenslanger Begleiter ist – das Zählen der trockenen Tage, so muss Rona feststellen, wird nie aufhören. Es wird nur irgendwann leichter.
So lässt der Film zum Glück auch Raum für hoffnungsvolle Töne, die, wunderbar poetisch und buchstäblich, von einem seltenen Vogel kommen. „The Outrun“ ist ein aufrüttelndes Kinoerlebnis, das einen erschüttert und trotzdem irgendwie seltsam glücklich zurücklässt.
(Gabi Rudolph)
„Cuckoo“ von Tilman Singer
Neben „The Outrun“ ist auch “Cuckoo” einer der Filme auf der Berlinale, bei dem eine deutsche Regie mit einem bekannten, internationalen Cast zusammengearbeitet hat. Dabei fällt niemand aus der Konstellation heraus und auch die deutschen Schauspieler*innen stehen den britischen und amerikanischen Mitgliedern des Casts in nichts nach, was für eine gute Ensembleführung spricht. Der zweite Film von Regisseur Tilman Singer, der ebenfalls das Drehbuch schrieb, wurde am 16. Februar erstmals im Rahmen der Berlinale dem Publikum präsentiert. Singer war bereits mit seinem Debütfilm Gast bei der Berlinale, „Luz“ lief 2018 in der Sektion „Perspektive Deutsches Kino“, wozu wir ihn damals zum Interview getroffen haben.
In seinem neuen Horrorfilm „Cuckoo“ zieht die 17-jährige Gretchen (Hunter Schafer) gezwungenermaßen mit ihrem Vater (Marton Csokas), seiner Frau (Jessica Henwick) und ihrer kleinen Stiefschwester in ein Ferienresort in den deutschen Alpen. Gretchens Vater und seine Frau Beth sind seit vielen Jahren mit dessen Leiter Herr König (Dan Stevens) befreundet und wollen nun für ihn ein neues Resort entwerfen, während Gretchen, hauptsächlich aus Langeweile, einen Ferienjob an der Rezeption übernimmt. Auch wenn Herr König in seiner aufdringlichen Gastfreundschaft und Fürsorge ein wenig seltsam ist, scheint zuerst alles relativ normal, wenn auch etwas eintönig. Doch bald nimmt Gretchen seltsame Geräusche und Vibrationen war, die ihr Umfeld auf paranormale Weise beeinflussen, und als sie schließlich sogar verfolgt und attackiert wird, tut sie sich mit einem ermittelnden Polizisten (Jan Bluthardt) zusammen, der ebenfalls nach der Wahrheit sucht.
Auch wenn die Geschichte sich gegen Ende ein wenig verliert, ist die Handlung von Tilman Singers zweitem Film definitiv stringenter und logischer als der Plot seines ersten Films “Luz”. Die eindrucksvolle Szenerie, deren gruselige Atmosphäre durch Ruhe, Sonnenschein und die wunderschöne Landschaft erzeugt wird, erinnert an “The Shining” und beweist, wie viel ungenutztes Potenzial Deutschland besitzt, was passende Drehorte angeht. Gerade der Beginn, die Einführung des abgeschiedenen Resorts als Schauplatz und die ersten Andeutungen, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht, sind sehr gut inszeniert. Hunter Schafer stellt mal wieder ihr herausragendes Können unter Beweis und die Figurenkonstellation setzt einen schönen Fokus auf die Beziehung zwischen Gretchen und ihrer deutlich jüngeren Schwester Alma. Irgendwann verliert der Film sich ein wenig in seiner eigenen Ästhetik, wir springen von Bild zu Bild, aber “Cuckoo” bleibt von Anfang bis Ende spannend und schafft es, Grusel mithilfe von Atmosphäre, einfachen Effekten und ohne übermäßige oder sinnlose Brutalität zu erzeugen.
(Emilie Rudolph)