Das Kino ist nicht klein zu kriegen. Zumindest ist das schon einmal die einhellige Einschätzung der Internationalen Jury, als deren Mitglieder bei der Pressekonferenz zur Eröffnung der 73. Berlinale gebeten werden, eine Liebeserklärung an das Kino abzugeben. Gut, man könnte sagen, dieser Meinung sollte man selbstverständlich sein, wenn man in der größten Jury eines der größten Filmfestivals der Welt sitzt. Wobei sich der rumänische Regisseur Radu Jude immerhin so weit aus dem Fenster lehnt, die Industrie als solche und ihren zunehmenden Verfall zu kritisieren woraufhin Jurypräsidentin Kristen Stewart ihm beipflichtet und sie ebenfalls als „stupid and embarrassing“ bezeichnet. Aber, so betont sie, das würde nichts daran ändern, dass das Bedürfnis, Geschichten zu erzählen und Geschichten erzählt zu bekommen, nie aussterben werde. Und im Jahr 2023 ist die Berlinale endlich wieder in voller Größe angetreten um zu beweisen, dass die große Leinwand immer noch eines der wichtigsten Mittel ist wenn es darum geht, diese zu transportieren.
Die überwältigende Vielzahl an Geschichten und die potenziert unendlichen Möglichkeiten sie zu erzählen, das ist tatsächlich die Faszination, die die Berlinale ausmacht – wenn man sich stolz und zugleich überwältigt bis überfordert fühlt, weil man es geschafft hat, in zehn Tagen 20 Filme zu gucken und weiß, das ist weniger als ein Zehntel der gezeigten Beiträge. Jeder Film hinterlässt ein komplett anderes Gefühl, von Begeisterung über Ratlosigkeit bis zu leidenschaftlicher Ablehnung ist jedes Jahr alles dabei. Und gleichzeitig ist das, was am meisten fasziniert die Gemeinsamkeiten, ein manchmal deutlich, manchmal zaghaft auszumachender roter Faden, der sich durch die Inhalte der Beiträge hindurch zieht. Es ist ein Barometer, das Ausschlag gibt über die Zeit, in der wir uns befinden, über das, was uns beschäftigt und verbindet.
Eines fällt in diesem Jahr besonders auf: selbst vor dem Hintergrund der hochbrisanten Ereignisse des letzten Jahres, politisch, gesellschaftlich und umwelttechnisch, führt alles zurück zum größten, universellen Konflikt: das Zwischenmenschliche. Es ist eigentlich keine besonders bahnbrechende Erkenntnis, aber die Beiträge der diesjährigen Berlinale machen es wieder einmal deutlich: es gibt keine Geschichte von hoher Tragweite, in der das zwischenmenschliche Miteinander keine bedeutende Rolle spielt. Und es macht absolut Sinn, Filme danach zu bewerten, denn bei all dem, womit wir täglich konfrontiert sind, bei all den Konflikten, Dramen und Tragödien von zum Teil globalem Ausmaß, die uns entgegen schlagen, läuft man manchmal Gefahr aus dem Augen zu verlieren, dass alles bei uns selbst und unserem Umgang mit unseren Mitmenschen beginnt.
Warum also die Berlinale nicht mit einer leichten Liebeskomödie eröffnen? Der diesjährige Eröffnungsfilm „She Came To Me“ von Rebecca Miller mag seine dramaturgischen Schwächen haben. Die Geschichte eines Opernkomponisten mit Schreibblockade (Peter Dinglage), welche von der überraschenden Begegnung mit der Kapitänin eines Lastkahns (Marisa Tomei) kuriert wird, ist stellenweise etwas unentschlossen in ihrer Erzählform. Manchmal überdreht skurril, stellenweise kitschig und ab und zu auch mal unsinnig, könnte man an „She Came To Me“ so einiges bemängeln. Für den Film spricht jedoch das schamlos gute Gefühl, das er hinterlässt, wenn man sich voll auf ihn einlässt. Das tut gut! Außerdem: Peter Dinklage darf eine Rolle spielen, in der sein Kleinwuchs nicht einmal thematisiert wird. Marisa Tomei darf mit 58 Jahren einfach nur hot sein. Die Liebe darf ein Happy End haben und Anne Hathaway darf beglückt ihrer höheren Berufung folgen. Der Film lässt viel zu, und man sollte es sich gönnen dürfen.
„Reality“ beweist in der Sektion Panorama, dass selbst bei einem hochpolitischen Thema das Miteinander der Figuren der spannendste Aspekt sein kann. Die Dialoge des Films sind ein Dokument jüngster Zeitgeschichte, Regisseurin Tina Sattler inszeniert die Hausdurchsuchung und Festnahme der Whistleblowerin Reality Winner im Jahr 2017 anhand der unveränderten Original-Tonbandaufnahmen des FBI. Wie die Befragung Winners durch die Beamten des FBI stattgefunden hat, ist hochgradig faszinierend und gleichzeitig schwer zu ertragen. Die Beamten wechseln in ihrer Gesprächstaktik immer wieder nahtlos zwischen überfreundlicher Fürsorge und subtilem Druck, während Winner darum kämpft, ihre Würde und zumindest einen Hauch von Überhand zu bewahren, indem sie zum Beispiel darauf besteht, die Befragung im Stehen durchzuführen. Unglaublich, was für eine Dramaturgie das wahre Leben liefern kann. Und noch unglaublicher ist die kraftvolle Performance Sydney Sweeneys als Reality Winner, die elegant beweist, dass sie über alle entscheidenden Mittel verfügt, ein derartiges Kammerspiel zu tragen.
Auffallend viele Filme beschäftigen sich in diesem Jahr mit Identität und den damit verbundenen Attributen, die den jeweiligen Geschlechtern von Seiten der Gesellschaft zugeschrieben werden, und die meisten versuchen dies auf progressive Weise. So zum Beispiel „Manodrome“ von John Trengove, in dem Jesse Eisenberg den vom Leben abgehängten Uber-Fahrer Ralphie spielt, der zwischen Fitnessstudio und der Beziehung zu seiner schwangeren Freundin versucht, sein Dasein als Mann zu erkunden. Er gerät dabei in einen hypermaskulinen Incel-Kult, der unter der Führung von „Vater Dan“ (Adrien Brody) es sich zum Ziel gemacht hat, seine Mitglieder mithilfe sexueller Enthaltsamkeit und männlichem Zusammenhalt von der Unterjochung durch die Frau zu befreien. Leider ist „Manodrome“ mehr Haudrauf-Horror als Sozialstudie, der Film macht sich nicht die Mühe, seine Hauptfigur wirklich zu verstehen, sondern setzt auf Ralphies von brutalen Bildern und Schockmomenten vorangetriebenem Amoklauf. Die Tröstlichkeit des Zusammenlebens im Manodrome wird leider auch nicht genug untersucht. Bleibt nur Jesse Eisenberg, der mit seiner spielerischen Intensität für vereinzelt gute Szenen sorgt.
Emily Atefs Wettbewerbsbeitrag „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ dreht die Zeit in vielerlei Hinsicht zurück. Zuerst einmal rein dramaturgisch, ihre Verfilmung des gleichnamigen Romans von Diana Krien aus dem Jahr 2011 spielt im Jahr 1990 in einem Dorf in Thüringen. Doch anstatt sich auf die verzweifelte Suche der ostdeutschen Landbevölkerung nach einer neuen Identität im frisch wiedervereinten Deutschland zu konzentrieren, erzählt der Film (wie bereits der Roman) die „Liebesgeschichte“ zwischen der 19 jährigen Marie und dem 40 Jahre alten Henner. Die Liebe steht hier nicht umsonst in Anführungszeichen, denn eigentlich geht es um emotionale Unterwerfung, wobei die Grenzen zum Missbrauch zum Teil deutlich überschritten werden. Romantisch ist hier allein die Erzählform, was das Ganze erst so richtig ärgerlich macht, denn in sonnensatten Schattierungen wird eine Begegnung gezeigt und verklärt, in der eine junge Frau emotional und sexuell ausgebeutet wird. Um die Geschichte im Jahr 2023 überhaupt erzählbar zu machen, wurde für die Verfilmung Maries Alter von 16 auf 19 hinauf gesetzt und Henners Umgang mit ihr und ihrem Körper deutlich entschärft. Trotzdem wird hier gezeigt, wie eine Frau angeblich Lust dabei empfindet, mit auf den Küchentisch gedrücktem Kopf brutal von hinten genommen zu werden. Die Geschichte mag ihre Daseinsberechtigung haben. Die Frage ist, worin der Reiz liegt, sie in einer Zeit zu erzählen, in der Frauen immer noch erschreckend erfolglos für ihre sexuelle Selbstbestimmung kämpfen. Einen Mann, von dem Gefahr und damit körperliches und seelisches Leid ausgeht zu wählen, anstatt die Sicherheit einer liebevollen Beziehung, ist keine natürliche, weibliche Eigenschaft. Wenn man sich als Frau dafür entscheidet, eine solche Beziehung derartig romantisch zu verklären, fällt man auf ein patriarchales Narrativ herein. Man kann „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ trotz all dem tatsächlich als einen gut erzählten und gespielten Film empfinden. Der Emanzipation erweist er dennoch einen Bärendienst. Das beweisen alleine schon die euphorischen Kritiken aus männlicher Feder, die den Film für seinen „erotischen Mut“ feiern.
Zwei Wettbewerbsbeiträge beschäftigen sich ebenfalls mit Beziehungsgeflechten, aber zum Glück auf wesentlich freudvollere Weise. „Past Lives“ von Celine Song erzählt die Geschichte einer Jugendliebe in Südkorea, aus der im Erwachsenenleben erneut eine unerwartet tiefe Verbindung wird. Dazwischen liegt die Kluft von Tradition und Moderne. Während Nora (Greta Lee) als Kind mit mit ihren Eltern in die USA emigriert ist, ist Hae Sung (Teo Yoo) in Südkorea aufgewachsen, hat dort den Militärdienst absolviert und studiert. Das Internet lässt die Freundschaft wieder aufleben, nach einem erneuten Bruch kommt es dann doch noch zu einem Wiedersehen in New York, wo Nora inzwischen mit ihrem amerikanischen Ehemann lebt. In den ruhigen Bildern und Dialogen von „Past Lives“ steckt eine ungeahnte Tiefe: das Aufeinandertreffen von Welten, das Bedürfnis nach Seelenverwandtschaft, die Angst, Sprach- und Traditionsbarrieren nie voll überwinden zu können. Vielleicht die schönste und traurigste Liebesgeschichte der Berlinale und außerdem ein starker Anwärter für den Darsteller*in-Bären.
In Christian Petzolds „Roter Himmel“ wird eine Gruppe junger Erwachsener zufällig in einem Ferienhaus an der Ostsee zusammen gewürfelt. Leon (Thomas Schubert) und Felix (Langston Uibel) wollten sich eigentlich dorthin zurückziehen um zu arbeiten, Leon am Manuskript seines zweiten Romans, Felix an seiner Bewerbungsmappe für die Kunsthochschule. Aber Felix‘ Mutter hat ein Zimmer bereits an die Saisonarbeiterin Nadja (Paula Beer) vermietet, was für Leon die Idylle und vor allem den Arbeitsflow empfindlich stört. Während Nadja, Felix und der Rettungsschwimmer Devid (Enno Trebs) den Sommer genießen wollen, steigert Leon sich immer mehr in sein Unglück als verkannter Künstler hinein und begeht eine Reihe von fatalen Fehleinschätzungen. Jemanden wie Nadja, die dem Leben und den Menschen mit einer derart bezaubernden Offenheit begegnet, kann man schließlich unmöglich ernst nehmen. Und während das Drama sich nach und nach entfaltet, brennen im Hintergrund die Wälder. Christian Petzold erzählt mit begeisternder Leichtigkeit und zum Teil schmerzhaftem Humor, bis hin zum unausweichlich schrecklichen Schluss.