Berlinale 2020: „Quiet emotional“

Die 70. Berlinale beginnt mit einem Statement. Jeremy Irons erbittet sich einem Moment zu Beginn der Pressekonferenz zur Vorstellung der internationalen Jury, um sich zu der Kontroverse zu äußern, die es im Vorfeld um seine Ernennung als Jury-Präsident gab. In den vergangenen Jahren hatte Jeremy Irons immer wieder mit unpassenden Kommentaren zu Themen wie Abtreibung, gleichgeschlechtliche Ehe und sexuelle Belästigung von sich Reden gemacht. Gut drei Minuten nimmt er sich nun Zeit, um sich von seinen getätigten Aussagen zu distanzieren (betont aber zu Beginn, dass er dies bereits getan hat) und ein Plädoyer für seine Akzeptanz und Unterstützung dieser drei Themen zu halten. Er tut dies, indem er in seinem bekannt imposanten Timbre ein vorformuliertes Statement vom Blatt vorträgt.

Es war die einzig mögliche Art für ihn, die Pressekonferenz zu eröffnen. Er wolle dieses Thema vom Tisch haben, sagt er, um damit nicht für weitere Ablenkung während des Festivals zu sorgen. Es ist gut, dass er es getan hat, aber gleichzeitig hinterlässt die unausweichliche Notwendigkeit seiner Worte immer noch einen faden Beigeschmack. Zu viele Fragen hätte es an ihn gegeben, wenn er nicht selbst in die Offensive gegangen wäre. Im Lauf der Pressekonferenz versucht nur ein Journalist später, dort noch einmal anzuknüpfen, aber es wird sofort deutlich, dass Jeremy Irons nicht weiter auf seine persönlichen Einstellungen eingehen wird. Und auch zu Beginn lassen seine Worte durchaus blicken, dass die Erklärung, die er sich gezwungen fühlt abzugeben, eher ein notwendiges Übel ist. Haben wir denn immer noch nicht verstanden, dass er es nicht so gemeint hat als er sagte, es wäre schon gut, dass die katholische Kirche uns daran erinnert, dass Abtreibung eigentlich Sünde ist? Müssen wir denn immer noch darüber sprechen? 

Nun ja, eigentlich müssen wir das. Gleichzeitig ist es in diesem Moment aber richtig, einen Schlussstrich zu ziehen. Aus Respekt gegenüber dem Festival, den dort laufenden Filmen und den Filmschaffenden, die an und in ihnen mitgewirkt haben. Sie verdienen die eigentliche Aufmerksamkeit. Und auch wenn Jeremy Irons in seinem Statement unkommentiert lässt, wie es zu seinem Sinneswandel kam, gönnen wir ihm den „Benefit of the Doubt“ und hoffen, dass er inzwischen eingesehen hat, dass Frauen freundlich die Hand auf den Hintern zu legen kein angemessenes Kommunikationsmittel ist. 

Also wenden wir uns dem zu, worum es bei der Berlinale eigentlich geht, nämlich den Filmen, und da beginnt das Ganze doch wesentlich erfreulicher. Der Eröffnungsfilm „My Salinger Year“ von Philippe Falardeau dürfte so manchem in der Wahl als solcher vielleicht nicht spektakulär genug sein, aber das ändert nichts daran, dass wir hier ein ungemein feines Stück Kino zu sehen kriegen durften. Die wunderbare Margaret Qualley spielt eine junge Frau namens Joanna Rakoff, die ihr Studium unterbricht um im New York der 90er Jahre ihr Glück als Schriftstellerin zu suchen. Sie nimmt eine Stelle als Assistentin der Literaturagentin Margaret an (ebenfalls wunderbar: Sigourney Weaver), die unter anderem den Kultautor J. D. Salinger vertritt. Zu Joannas Aufgaben gehört unter anderem, Salingers Fanpost mit Standardbriefen zu beantworten. Aber die Briefe von Menschen aus der ganzen Welt, die ihre Verbundenheit zu Salinger und besonders zu seinem „Der Fänger im Roggen“ ausdrücken, berühren Joanna mehr aus ihr Aufgabenfeld es zulässt. Die Briefeschreiber werden lebendig, Joanna gewährt ihnen Einlass in ihr Leben und der Film uns in ihres. Wir sehen eine junge Frau auf der Suche nach Selbstbestimmung und dem richtigen Weg, beruflich wie privat, Salinger taucht dabei immer wieder wie ein Phantom auf – unter anderem am Telefon, wo er Joanna kurze aber wertvolle Ratschläge zu ihrer potentiellen Laufbahn als Schriftstellerin gibt. „Schreibe jeden Tag, auch wenn es nur 15 Minuten sind“, ist einer davon. Wie einfach, wie herrlich!

Vor allem aber, und das ist mit das Schönste an „My Salinger Year“ geht es um die Beziehung zwischen zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, die aber trotzdem ein Stück Weg miteinander gehen und dabei Bedeutung füreinander einnehmen. Joanna verdient sich zunehmend Margarets Respekt, die beiden finden in ihrem Zögling/Mentor-Verhältnis trotz des Altersunterschiedes und der unterschiedlichen Lebensziele auch eine emotionale Ebene zueinander. Unglaublich fein inszeniert hat Regisseur Falardeau seine beiden Hauptfiguren und ihre stückweise Annäherung. Aber auch die Beziehung zwischen Joanna und ihrem sozialistischen Freund, der auf dem Weg zum Schriftsteller schon ein Stück weiter ist als sie selbst, ist wunderbar sensibel beobachtet. Daran, dass alle Sympathien bei der jungen Frau und ihrem Weg der Selbstfindung liegen, lässt der Film keinen Moment lang Zweifel aufkommen. Und nicht zuletzt ist „My Salinger Year“ natürlich eine große Liebeserklärung an die Literatur. Der Film zollt dieser Kunst größten Respekt, und er tut das auf liebevolle Art altmodisch und hochaktuell zugleich.

Die Grundlage zu „My Salinger Year“ bildet die autobiografische Romanvorlage von Joanna Rakoff, die bei der Pressevorführung selbst anwesend ist. Bei der Umsetzung des Films waren ein Großteil der wichtigen Positionen mit Frauen besetzt, wie zum Beispiel Kamera (Sara Mishara), Production Design (Élise de Blois) und Schnitt (Mary Finlay) und auch im Produktionsteam hält sich das Mann/Frau Verhältnis die Waage. Sigourney Weaver sagt, sie habe noch nie an einem Set gearbeitet, an dem so viele Frauen anwesend waren. Vielleicht ist daraus dieser besondere Geist entstanden, den man dem Film anmerkt und der so wohltuend ist in der heutigen Zeit, in der Gleichberechtigung in der Theorie zwar ein großes Thema ist, dessen Umsetzung aber immer noch ordentlich Anschub braucht.  Und ein kleiner Fun-Fact noch am Rande: dafür gelobt, wie wunderbar er das Leben im New York der neunziger Jahre eingefangen habe, gibt Falardeau zu, dass der Film eigentlich in Montreal gedreht wurde. Er scheint einfach ein besonders gutes Gespür für Atmosphäre zu haben.

Eine kurze, aber entscheidende Rolle spielt im Film übrigens ein Tippfehler. In einem der Briefe an J.D. Salinger schreibt ein Bewunderer, manchmal würde er „quiet emotional“. Wirklich tragisch ist, dass der Ersteller der deutschen Untertitel den bewussten Einsatz des Fehlers nicht bemerkt hat und hier, wie vom Verfasser des Briefes eigentlich intendiert, „quite emotional“ – ganz schön emotional, übersetzt hat. Denn die durch den Tippfehler entstandene ruhige Emotion ist exemplarisch für die Kraft des Eröffnungsfilms. Und wenn es so bleibt, wäre sie auch eine schöne Grundstimmung für diese frisch gestartete Berlinale. 

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