Agnes Obel im Interview: „Es ist so furchtbar und gleichzeitig so albern“

Dank Agnes Obel weiß ich nun, dass „Myopia“ der englische Begriff für Kurzsichtigkeit ist. Passend zum Titel ist Agnes Obels neues Album ein Blick nach innen geworden, eine Abkehr von all dem Wahnsinn, der täglich auf uns einströmt. Kein Blick in die Weite, sondern eine Konzentration auf unser Innerstes. Auf die für sie eigene Art widmet Agnes Obel sich tiefen Themen wie Verlust, Trauer und, ich fühle direkt mit ihr, Schlaflosigkeit. Im Gespräch wirkt die Wahlberlinerin dafür sehr aufgeräumt und entspannt, und das obwohl sie sich erst einen Tag vorher eine Verletzung am Auge zugezogen hat. Sie gewährt mir einen kleinen Einblick in ihr Schaffen und in die Welt von „Myopia“.

Wie lange lebst du jetzt eigentlich schon in Berlin?

Lange. Ich bin 2005 hierher gekommen, um an der HU zu studieren. Dann bin ich zurück nach Kopenhagen gezogen, habe dort an ein paar Sachen gearbeitet und bin 2009 zurückgekommen. Das klingt länger als es eigentlich war. Von 2010 bis heute war ich quasi durchgängig auf Tour. Und wenn ich nicht auf Tour war, habe ich Alben geschrieben und aufgenommen. Ich lebe hier, habe es aber immer noch nicht richtig geschafft Wurzeln zu schlagen. Aber Berlin ist ein guter Ort um zu leben, wenn man ein Leben ohne festes Zentrum führt. Die Leute hier haben kein Problem damit. Die Leute, die ich in Kopenhagen kenne, sind verwurzelter und hätten wahrscheinlich eher ein Problem mit meinem Lebenswandel, während meine Freunde hier in Berlin ein ähnliches Leben führen. Dadurch fühle ich mich nicht so seltsam. 

Aber fühlst du dich hier zuhause?

Ja… ich glaube. Nicht überall in Berlin, aber in Neukölln, wo ich seit 2009 lebe, schon. Wenn ich mit der (in Deutsch) „Steuerbehörde“ zu tun habe, fühle ich mich zum Beispiel nicht so zuhause (lacht). Dann fühle ich mich plötzlich sehr dänisch. Oder neulich, als ich mich verletzt habe, in der Rettungsstelle. In solchen Situationen merke ich, dass ich nicht von hier bin, weil das System so ganz anders ist. Ich finde es immer noch seltsam, dass wenn ich hier zum Arzt gehe, der Papierkram eine halbe Stunde dauert und der Arzt mich dann für fünf Minuten anguckt. Aber die Stadt selber liebe ich und vermisse sie auch, wenn ich nicht hier bin. Es gibt hier in Berlin so eine Einstellung, dass man sich nicht mit Bullshit aufhält. Das mag ich. Es ist ein großes Glück, dass es so einen Ort gibt. 

Denkst du, deine Musik würde heute anders klingen, wenn du die letzten Jahre nicht in Berlin gelebt hättest?

Ich muss sagen, dass ich mich hier keiner musikalischen Szene wirklich verbunden fühle. Aber als ich in Kopenhagen aufgewachsen bin und Musik gemacht habe, hatte ich immer das Gefühl, dass die Szene dort sehr karriereorientiert ist. Die Gespräche, die sich darum gedreht haben auf dem Konservatorium zu studieren, einen Plattenvertrag zu bekommen oder im Radio gespielt zu werden, habe ich schon in jungen Jahren mitbekommen, da ich viele Freunde hatte, die sich damit beschäftigt haben. Als ich nach Berlin gezogen bin, ist mir aufgefallen, dass es diese Gespräche hier so nicht gibt. Wenn man sich hier über Musik unterhält, dann geht es mehr um die Erfahrungen, die man damit macht, um den persönlichen Ausdruck. Das hat mir sehr gut getan. Es entspricht viel mehr der Art wie ich arbeite. Ich tendiere dazu, unter Druck nicht so gut zu funktionieren. Als ich hier also gespürt habe, dass es weniger um den Erfolg geht sondern mehr um die Idee, die hinter allem steht, habe ich angefangen mich sehr frei zu fühlen. Hinzu kam, dass ich, bevor ich hierher gezogen bin, sowohl in Bands Musik gemacht habe als auch für mich alleine, mit dem Klavier. Für letzteres gab es nie wirklich einen Platz in Dänemark, weil es schwer einem Genre zuzuordnen war. Ein Teil von mir hat sich sogar ein wenig dafür geschämt. Es war etwas sehr Privates für mich. Als ich hierher gezogen bin, habe ich erst einmal meine musikalischen Kontakte verloren. Und so ist die Klaviermusik zum Zentrum geworden von dem was ich gemacht habe. Die Leute um mich herum haben eher elektronische Musik gemacht, aber sie haben alle alleine mit sich selbst gearbeitet. Sie hatten keine Plattenverträge, aber darum ging es auch nicht in erster Linie. Das hat mich sehr beeinflusst. Ich hatte plötzlich das Gefühl, ich muss mich niemandem gegenüber rechtfertigen für das was ich mache. Dafür bin ich sehr dankbar. Also hat mich vor allem die Arbeitsethik, die mir hier in Berlin begegnet ist, beeinflusst. Das mag jetzt ein wenig seltsam klingen, weil wir hier gerade im Universal Gebäude sitzen (lacht). Aber ich hätte wirklich nie gedacht, dass ich jemals hier sitzen würde. 

Das ist spannend, dass du deine Klaviermusik als etwas sehr Privates beschreibst. Das muss doch ein unglaubliches Gefühl sein, mit etwas, das sich so privat anfühlt, so weit gekommen zu sein.

Ja (lacht). Aber es war auch ein sehr großer Lernprozess. Und ich lerne immer noch, mit diesen Dingen umzugehen. Bei meinem letzten Album, „Citizen of Glass“, habe ich mich sehr damit beschäftigt. Weil ich mich manchmal gefragt habe, ob ich vielleicht Dinge von mir preisgebe, die ich lieber für mich behalten sollte. Es ist schon ein seltsames Paradox, mit Dingen zu arbeiten, die alleine deinem Geist entspringen und diese dann nach draußen zu tragen, bis hinauf auf die Bühne, wo du sie vor anderen Leuten spielst. Manchmal macht mir das Angst. Ich versuche immer noch, die richtige Balance zu finden. Wenn es um das hier geht, ums Interviews geben zum Beispiel, sagen mir Leute manchmal, ich sollte mir einfach Dinge ausdenken, damit ich nicht so viel von mir preisgebe. Aber das möchte ich nicht tun. Wir sind so überstimuliert von all der Information, die es da draußen gibt, und damit meine ich nicht nur Musik. Ich möchte nicht noch mehr Blödsinn dazu beitragen (lacht). Man sollte wenigstens ehrlich sein. Und ich glaube, ich habe inzwischen gute Wege gefunden. Einer davon ist, ganz für mich allein zu arbeiten, mich von der Welt da draußen abzuschirmen. Dann passieren die Dinge ganz von alleine, ich verliere mich in dem was ich tue und es geht mir gut. 

Schön, dass du das sagst, auch im Bezug auf Interviews. Ich finde ja, dass zu viel Überlegung, Vorbereitung, Taktik oder was auch immer den Funken tötet, der etwas besonders macht.

Ich finde ja, das trifft besonders auf Konzerte zu. Man fühlt es, wenn auf der Bühne jeden Abend das gleiche passiert. Heutzutage geht es bei Live-Shows viel zu sehr um Perfektion, alles ist genau durchgeplant. Natürlich macht es Sinn, dass man sich   vorbereitet. Aber nicht jeder Abend ist der gleiche, nicht jede Show ist die gleiche. Die Architektur des Ortes, die Leute im Publikum, du selbst – all das ist jedes Mal anders. Du musst Raum dafür lassen, dass etwas passieren kann. Manchmal kommt dann auch etwas Seltsames dabei raus – bei mir ist das definitiv der Fall (lacht). Aber das ist okay. Dadurch passiert manchmal etwas, das nur an diesem einen Abend passiert. Und daran erinnert man sich später. Unsere Erinnerung ist das Wichtigste, das wir im Leben haben. Auch wenn ich mich manchmal ein bisschen schäme für das, was ich auf der Bühne gesagt habe (lacht)

Jetzt ist unsere Zeit schon fast rum, und wir haben noch gar nicht über „Myopia“ geredet. Ich dachte, ich sage dir zum Schluss wenigstens, was meine Gedanken beim Hören waren.

Oh ja, bitte.

2019 war ein sehr bewegtes Jahr für mich. Sehr viel ist von außen auf mich eingeströmt. Sowohl Privates, als auch all die vielen, zum Teil furchtbaren Dinge, die in der Welt passiert sind. Als ich dein Album gehört habe, hatte ich das Gefühl, dass mich lange nicht mehr etwas so sehr mit „nach innen“ genommen hat. Wenn du verstehst was ich meine. 

Das ist wundervoll! Ich glaube, das ist genau der Grund, warum ich dieses Album machen musste. Es war so, als müsste ich das ganze Programm noch einmal neu starten, in Stille. Um herauszufinden, was in meinem Kopf vor sich geht. Es ist seltsam, ich habe das Gefühl dass wenn viel um einen herum passiert, der Geist irgendwie steif wird. Man sieht mehr schwarz und weiß. Und ich glaube, das passiert gerade auf einer globalen Ebene. Die Leute werden immer extremer, unflexibel. Wie zum Beispiel Klimawandel-Verleugner. Vielleicht ist das eine Reaktion auf die ständige Reizüberflutung, vielleicht sind sie nicht mehr in der Lage, sich mit der Wissenschaft zu befassen, Fakten aufzunehmen. Die Lösung ist, zumindest für mich, bei sich selbst anzufangen, anstatt mit dem Finger auf andere zu deuten und zu erwarten, dass sie einem Lösungen liefern. Ich weiß nicht, ob meine Wahrnehmung in irgendeiner Weise geschlossen ist, ob sie der Wahrheit entspricht. Wenn ich in einer bestimmten Stimmung bin, sehe ich alles in den entsprechenden Farben.  Ich bin oft voller Zweifel. Dein Geist kann so leicht entführt werden. Ich muss aber auch sagen, dass die zwei großen Themen dieses Albums, Vertrauen und Zweifel, nicht neu für mich sind. Wenn ich auf meine früheren Alben zurückblicke, dann sehe ich schon sehr deutlich, dass sie allgegenwärtig sind (lacht). Aber es war neu für mich, sie so bewusst anzugehen, auch im Sound. Ich denke, ich bin auch noch nicht fertig damit. Ich suche immer noch nach neuen Perspektiven, aus denen ich diese Themen betrachten kann. Aber es freut mich sehr, dass du das sagst. Das ist das Feedback, das ich mir gewünscht habe. 

Ich finde, es ist auch gar nicht so ein düsteres Album geworden. Auch wenn es zum Teil um düstere Themen geht, wie Verlust und, eins meiner persönlichen Lieblingsthemen, Schlaflosigkeit. 

Nein, das denke ich auch. Ich hoffe es! Selbst in den düstersten Erfahrungen, die ich gemacht habe, gab es immer Momente von Menschlichkeit, von Licht und Wärme. Vor allem auch was die Schlaflosigkeit angeht. Der Song „Broken Sleep“ – ich wollte, dass er auch ein bisschen lächerlich ist (lacht). Wenn du Schlaflosigkeit kennst, dann kennst du auch dieses Gefühl – oh nein, es geht schon wieder los… es ist so furchtbar und gleichzeitig so albern. 

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