Berlinale 2020: Die weibliche Perspektive

Nina Hoss und Lars Eidinger in „Schwesterlein“

Es ist die verregnetste Berlinale, die ich je erlebt habe. Man stellt sich das vielleicht ganz gemütlich vor, beim Pladdern der Tropfen im Kino zu sitzen. Aber im kalten, zum Teil strömenden Regen von einem Kino zum nächsten zu laufen kann auf die Dauer ein bisschen aufs Gemüt schlagen. Vor allem wenn man sich von einem Film zum anderen hangelt und nicht jeder davon Balsam für die Seele ist.

Christian Petzolds „Undine“ und ich werden zum Beispiel so gar keine Freunde. Seine moderne Version des Nixen-Mythos mit Paula Beer und Franz Rogowski ist voll klug konstruierter, intellektueller Details. So ist seine Undine Historikerin, ihr Fachgebiet ist Berlin, die Stadt, die dem Namen nach ein Ort im Sumpf ist. Als sie zu Beginn von ihrem Freund (Jacob Matschenz) verlassen wird und ohne mit der Wimper zu zucken verkündet dass er nun sterben müsse, kommt direkt die Hoffnung auf, es könne irgendwie skurril werden. Aber „Undine“ wirkt in erster Linie durchdacht. Obwohl hier eine Liebesgeschichte erzählt wird, haben Paula Beer und Franz Rogowski die erotische Energie zweier Schaufensterpuppen. Auch die Inszenierung wirkt insgesamt statisch, die Bilder seltsam antiquiert, und wenn es an die mystisch angehauchten Unterwasseraufnahmen geht, wird es sogar unfreiwillig komisch. 90 Minuten lang sitze ich im Trockenen, stehe aber gefühlt im Regen. 

Trotzdem möchte ich „Undine“ nicht unerwähnt lassen, denn auch dieser Film stützt eine These, die sich mir bei dieser Berlinale freudig aufdrängt. Es ist natürlich schwer zu sagen ob der glückliche Zufall sie mir zugespielt hat, aber viele Filmen die ich gesehen habe verband, dass der weibliche Blick, die Sicht der Frau, stark im Mittelpunkt stand. Das ging direkt beim Eröffnungsfilm „My Salinger Year“ von Philippe Falardeau los und zog sich in den letzten Tagen als roter Faden durch mein Programm hindurch. Nicht alle Filme sind dabei gleich stark. Aber dass in vielen Geschichten die Sicht einer Protagonistin auf die Dinge das Geschehen bestimmt, ist mir erfreulich oft aufgefallen. 

Elisabeth Moss und Odessa Young in „Shirley“

Zu den rein filmisch weniger gelungenen gehörte dabei der Wettbewerbsbeitrag „El prófugo – The Intruder“ von der argentinischen Regisseurin Natalia Meta, den ich auch noch direkt im Anschluss an „Undine“ gesehen habe (nachdem ich mich im strömenden Regen vom Berlinale-Palast zum Friedrichstadtpalast durchgekämpft hatte). Was für ein Jammer das war! Denn der Film setzt eine starke Prämisse und besticht in den ersten 15 Minuten mit absurdem Humor und einer faszinierend seltsamen Atmosphäre. Die Synchronsprecherin Inés muss im Urlaub mit ansehen wie ihr Lebensgefährte aus dem Fenster fällt/sich stürzt/gestoßen wird (es bleibt, wie so vieles in diesem Film, unklar). Danach wird sie von heftigen Alpträumen geplagt und stellt fest, dass mit ihrem Körper, vor allem mit ihrer Stimme, etwas nicht stimmt. Bei Synchronaufnahmen sind neben ihrer Stimme plötzlich Störgeräusche zu hören. Eine Schauspielerin aus dem Studio klärt sie auf: Inés habe einen Eindringling in sich, der versucht, von ihrem Körper Besitz zu ergreifen. Klingt spannend? Aufregend? Skurril? Könnte es alles sein. Leider kann „El prófugo – The Intruder“ sich spätestens ab der Hälfte nicht entscheiden, worauf das Ganze hinauslaufen soll und endet letztendlich mit einem ratlosen Schulterzucken. Und stand in der Beschreibung nicht etwas von Erotik? Ich möchte auch nicht zu besessen von dem Thema wirken. Vielleicht liegt es am Dauerregen, dass ich mich so dringlich nach etwas menschlicher Wärme auf der Leinwand sehne. 

In der neuen Sektion Encounters hingegen gibt es eine wahre Perle zu entdecken. Die amerikanische Regisseurin Josephine Decker inszeniert in „Shirley“ die Begegnung zwischen der Schriftstellerin Shirley Jackson, ihrem Mann, College-Professor Stanley Hyman und dem jungen Ehepaar Fred und Rose Nemser. Der junge Doktorand und seine schwangere Frau ziehen bei den Hymans ein, mit dem Bedürfnis ein neues Leben zu beginnen. Aber die beiden werden immer stärker mit hinein gezogen in die destruktive Beziehung zwischen der depressiven, kaum das Haus verlassenden Schriftstellerin und dem Professor, der seine Frau wieder zum Schreiben antreiben will. „Shirley“ ist inhaltlich, spielerisch und formal ein Fest, wenn auch kein vergnügliches. Elisabeth Moss’ Darstellung der Shirley Jackson, die in den sechziger Jahren eine gefeierte Horror-Schriftstellerinnen war, ist abgründig, unangenehm und gleichzeitig berührend. Josephine Decker findet sehr eigene Bilder, die den beklemmenden Zustand der Beziehungen verdeutlichen. Und obendrauf findet hier auch noch eine betörende Sinnlichkeit statt. Endlich! Trotzdem fühle ich mich nach dem Film derart beansprucht, dass ich den Rest des Abends das Gefühl habe, so schnell nicht wieder ins Kino gehen zu können.

Aber hilft ja nix, the show must go on. Es ist auf jeden Fall keine Berlinale der leichten Themen. In dem Schweizer Wettbewerbsbeitrag „Schwesterlein“ von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond spielen Nina Hoss und Lars Eidinger ein Zwillingsgeschwisterpaar, das sich auf die schlimmstmögliche Art voneinander lösen muss. Sven ist Schauspieler und an Krebs erkrankt, seine Schwester Lisa ist Theaterautorin und leidet seit der Diagnose ihres Bruders an einer Schreibblockade. Statt in Berlin, wo sie eigentlich gerne wäre, lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in der Schweiz, die sie zunehmend als goldenen Käfig empfindet. Sven möchte zurück auf die Bühne, aber sein Theaterintendant (Thomas Ostermeier, jawohl) lässt die geplante Wiederaufnahme platzen. Auch „Schwesterlein“ besticht dadurch, dass ganz klar Lisas Seite der Geschichte im Vordergrund steht. Nina Hoss spielt Lisas Umgang mit der Trauer um den sich immer mehr verabschiedenden Bruder sowie ihren Kampf um die eigene Unabhängigkeit mit derartiger Stärke, dass einem fast die Luft weg bleibt. Und das obwohl Lars Eidinger hier eigentlich die noch tragischere Rolle hat, in die er sich mit der typischen Eidinger-Intensität hineinstürzt. Haarlos, mit geschundenem Körper, kotzend, vor Schmerzen wimmernd – es ist dem Film hoch anzurechnen, dass dabei so viel Platz für Nina Hoss und ihre Darstellung der Lisa bleibt. Er nimmt einen derart gefangen, dass man ihm sogar die unnötige Metaebene mit der Schaubühne verzeiht – ein schmerzhaft schöner Wettbewerbsbeitrag!

Sandra Guldberg Kampp in „Kød & Blod“

Zwei weitere großartige Filme seien zu erwähnen, bei denen eine weibliche, jugendliche Protagonistin im Mittelpunkt steht. „Kød & Blod (Wildland)“ von der dänischen Regisseurin Jeanette Nordahl läuft im Panorama und erzählt die Geschichte der 17-jährigen Ida, die nach dem Tod ihrer Mutter zu ihrer Tante und ihren drei Cousins ziehen muss. Die Familie nimmt sich ihrer an, ist aber in kriminelle Machenschaften verstrickt, von denen Ida unweigerlich ein Teil wird. Besonders das ruhige, konzentrierte Spiel des Nachwuchstalents Sandra Guldberg Kampp verleiht dem Film eine tiefe Eindringlichkeit, gleichzeitig herrscht hier eine bis zum Schluss ungebrochene Spannung. Am Ende steht die Frage, wieviel Loyalität man der eigenen Familie schuldet. „Kød & Blod“ ist vielleicht der eindrucksvollste Film den ich dieses Jahr gesehen habe und hätte eigentlich einen Platz im Wettbewerb verdient. Und er sorgt in einer Szene sogar für einen der wenigen großen Lacher, die ich erleben durfte, als eine Tätowierung mit den Worten erklärt wird, „Carpe Diem“ sei lateinisch für „YOLO“. 

„Never Rarely Sometimes Always“ von Eliza Hittman ist neben „Schwesterlein“ einer meiner persönlichen Hoffnungsträger für den Wettbewerb. Die 17-jährige Autumn (schlicht und ergreifend meisterhaft gespielt von Sidney Flanigan) ist ungewollt schwanger. Bei einer sogenannten Beratungsstelle bekommt sie statt wertfreier Aufklärung aber nur Broschüren über Adoption und beim Ultraschall ungefragt den Herzschlag des ungeborenen Kindes zu hören, von dem sie genau weiß, dass sie es nicht haben will. Als sie sich schließlich traut, den Wunsch nach einer Abtreibung zu äußern, wird ihr ein propagandistisches Abschreckungsvideo gezeigt. In ihrer Not entschließt sich Autumn auf eigene Faust nach New York zu fahren, wo der Eingriff für sie leichter zugänglich ist. Ihre Cousine Skylar erklärt sich bereit, sie zu begleiten und zu unterstützen. Der schweigsame, nach außen hin fast emotionslos wirkende Schulterschluss der beiden Teenager, ihre verlorene Odyssee durch das nächtliche New York und vor allem die Schlüsselszene, in der der Titel des Films sich erklärt, gehen nahezu unerträglich unter die Haut. Dabei lässt der Film keine Sekunde lang Zweifel daran, wo hier die Sympathien liegen und wie wichtig es für unsere Gesellschaft ist, dass Abtreibung eine verfügbare Option bleibt. 

Sidney Flanigan in „Never Rarely Sometimes Always“

Die weibliche Perspektive war in den letzten Tagen aber nicht nur inhaltlich präsent. Es war für mich die erste Berlinale, bei der ich mehr Filme von Regisseurinnen gesehen habe. Und auch bei den Pressekonferenzen war das Podium oft in großen Teilen bis hin zu mehrheitlich weiblich besetzt. Dass gute Filme über weibliche Themen aber nicht zwingend nur aus Frauenhand stammen können, dafür ist „My Salinger Year“ das beste Beispiel. Insgesamt zeigten viele der Filme die ich gesehen habe ein starkes Interesse daran, Geschichten aus der weiblichen Perspektive zu erzählen. Und dass diese thematisch vielfältiger kaum sein könnte. Die Freude darüber, die konnte mir selbst der anhaltende Regen nicht nehmen. 

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