Berlinale 2017: „The Dinner“ von Oren Moverman

The Dinner Berlinale WettbewerbHerman Kochs Roman „Angerichtet“ war bei seinem Erscheinen 2009 (in deutscher Übersetzung 2010) eine kleine Sensation. Wer ihn nicht gelesen hat, dürfte zumindest das Cover, roter Hummer auf blauem Hintergrund, in Erinnerung haben, es war damals in nahezu allen Auslagen präsent. „Angerichtet“ ist ein fieses Kammerspiel, ein Schlagabtausch zwischen zwei Ehepaaren im Laufe eines Abendessens, während dessen sich immer mehr Abgründe offenbaren. Ein brisanter Stoff, mit nahezu Thriller-artigem Aufbau geschrieben, ungemein spannend, moralisch zum Teil äußerst fragwürdig – das perfekte Material für eine Verfilmung. Dass Hollywood sich, mehr als sieben Jahre nach Erscheinen nun doch noch dran gewagt hat zeigt, dass Herman Kochs Geschichte heute aktueller denn je ist. Wenn man bedenkt, mit welchem irrwitzigen Tempo sich das Internet und das damit verbundene Sozialverhalten in den letzten Jahren entwickelt hat, dann erweist sich der niederländische Autor auf erschreckende Weise nahezu als Visionär.
Denn in „Angerichtet“ geht es darum, dass zwei Jugendliche nicht nur ein grausames Verbrechen begehen, sondern dieses auch noch mit den Kameras ihrer Handys filmen. Das Material landet kurze Zeit später im Internet. Die Väter der beiden Jungs sind Brüder, der eine Geschichtslehrer, der andere Politiker, kurz vor seinem Durchbruch in ein wichtiges Amt stehend. Bei einem Essen kommen sie mit ihren Frauen zusammen, um zu überlegen, wie man die Situation handhabt. Müssen die Täter zur Verantwortung gezogen werden? Oder verbaut man ihnen damit die Chance auf eine unbeschriebene Zukunft? In welche Richtung hat man als Eltern die Verantwortung, seine Sprösslinge zu schützen? Auf dem Material im Internet sind die Täter nicht zu erkennen, es ist also noch alles offen.
Zwei Paare an einem Tisch, ein Thema, das prekärer nicht sein könnte. In der filmischen Umsetzung „The Dinner“ von Regisseur Oren Moverman, die letzte Woche auf der Berlinale Premiere hatte, sind die Paare illuster besetzt mit Richard Gere als Senator Stan Lohman, Steve Coogan als sein Bruder Paul, Rebecca Hall als seine Frau Katelyn und Laura Linney als Pauls Frau Claire. Mit dem Stoff und der Besetzung scheinen alle Weichen auf Erfolg gestellt. Aber leider erweist sich die filmische Umsetzung als gnadenlose Verhunzung der Romanvorlage.
Es krankt an so vielen Ecken, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll. Zuerst einmal hat sich der Drehbuchschreiber (Regisseur Oren Moverman) dafür entschieden, Senator Lohman als geschieden anzulegen und somit Richard Gere mit Rebecca Hall eine wesentlich jüngere zweite Frau an die Seite zu geben. Dafür warum das so ist, gibt es keine plausible Erklärung, zumal die Auseinandersetzung zusätzliche Schärfe dadurch erhält, dass alle Beteiligten sich schon lange kennen. Bleibt also nur noch die Theorie, dass jemand in Hollywood glaubte, man kann es dem Zuschauer nicht zumuten, sich einen ganzen Film lang mit vier Menschen gleichem – und damit gehobenem – Alter auseinanderzusetzen. Da fehlte wohl das nötige Quentchen Sexappeal, um die Geschichte zu verkaufen. Und dieses ist in Hollywood leider nach wie vor hauptsächlich den Schönen und Jungen vorbehalten. Auf diese Weise bringt man außerdem auch gleich zwei davon unter, denn in den Rückblenden taucht Chloë Sevigny als Stans Exfrau Barbara auf. Es ist keine Spinnerei sondern Fakt, dass Frauen über 40 (geschweige denn über 50) es in Hollywood nach wie vor schwer haben, gute Rollen  zu bekommen. In diesem Sinne ist es schon eine Freude, Laura Linney mal wieder in diesem Umfang zu erleben – in „Nocturnal Animals“ zum Beispiel beschränkte sich ihr Auftritt zuletzt auf eine einzige, wenn auch brillante Szene.

Aber das ist bei weitem nicht das einzige und größte Ärgernis an „The Dinner“. Natürlich kann es nicht der Sinn einer Verfilmung sein, sich sklavisch an die Vorlage zu halten. Aber in „The Dinner“ wird an den falschen Stellen unnötiges hinzu gefügt, wesentliches dafür weg gelassen und die Dramatik der Situation einerseits mit typischem Gut/Bose Pathos aufgebauscht, in den entscheidenden Momenten aber gnadenlos niedlich glatt gebügelt. Hinzu kommt, dass sämtliche Figuren erschreckend eindimensional geworden sind. Richard Gere darf als Stan Lohman eine gähnend langweilige, völlig einseitige moralische Instanz geben. Selbst die wunderbare Laura Linney fängt irgendwann an mit ihrer stereotypen Darstellung der liebevollen aber gleichzeitig knallharten Löwenmutter zu langweilen. Einzig Steve Coogan als Geschichtslehrer mit manisch depressiver Störung kommt einigermaßen vielschichtig daher. Dabei wird seine Figur, im Vergleich zum Roman, fast noch am schlechtesten auserzählt. In den Rückblenden, die das Motiv des Abendessens unterbrechen, zeit Moverman stereotype Familienauseinandersetzungen. Und da man es hier ja mit einem polarisierenden, sogar höchst unmoralischen Thema zu tun hat – denn die Mehrheit am Tisch ist dafür, den Vorfall zu vertuschen – versucht man offensichtlich krampfhaft, die Moral an anderer Stelle als Ausgleich aufrecht zu halten. So ist zum Beispiel der Grund für Mutter Claires Erkrankung in der Vergangenheit, dass sie geraucht hat. Das wird so plump und bieder thematisiert, da kann man nur den Kopf schütteln.
Das größte Problem an der ganzen Geschichte ist aber die Darstellung der Täter an sich, der beiden Jungs, um deren Schutz oder Auslieferung man verhandelt. Man lernt nur Michael, den Sohn von Paul und Claire kennen (im Roman übrigens ebenfalls), aber ihn auch nur rudimentär. Im Prinzip erlebt man ihn nur als aufsässigen, verzogenen Draufgänger, den man am liebsten mit dem Kopf auf die Tischplatte hauen möchte und von dem man sich ernsthaft fragt, womit er das Bedürfnis seiner Eltern, ihn derart gnadenlos zu schützen, überhaupt verdient hat. Denn auch das ist eine große Stärke von Herman Kochs Roman. So schockierend diese mutwillige Zerstörung der familiären Idylle am Anfang wirken mag, im Verlauf lässt er durchaus blicken, woher die Abgestumpftheit, der laxe Umgang mit Gewalt rühren mag. Im Film erschließt sich das überhaupt nicht. Alle Beteiligten rudern mit den Armen und versuchen krampfhaft, dem schlecht erzählten Plot einen Sinn und dem Handeln ihrer Figuren eine Berechtigung zu geben. Das Ganze kulminiert dann auch in einem unsäglich verkorksten Schluss. Auch hier hat man sich gescheut, den Weg der Vorlage zu gehen, der nämlich überaus konsequent aber eben auch völlig unmoralisch ist. So etwas traut Hollywood sich dann doch nicht.
„The Dinner“ hätte tatsächlich das Potential gehabt, der schlechteste Beitrag des diesjährigen Berlinale Wettbewerbs zu werden. Wäre da nicht noch Thomas Arslans „Helle Nächte“ um die Ecke gekommen. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.

Auf der Berlinale unterwegs: Gabi Rudolph

Foto: The Dinner, Wettbewerb 2017, USA 2016, von: Oren Moverman, Steve Coogan, Laura Linney, © 2016 Tesuco Holdings Ltd

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