Ein Hirsch und eine Hirschkuh nebeneinander an einem Bach in einem verschneiten Wald. Sie suchen nach Futter auf der eisigen Erde, ihre Schnauzen berühren sich zärtlich. Ein Bild der Verbundenheit, der Ruhe, die Kamera streicht liebevoll über die schönen Tiere. Umso härter der Umschnitt in die Hallen eines Schlachthauses. Blut, hängende Tierkadaver. Hier arbeitet Endre (Géza Morcsányi) in der Personalabteilung. Zu Mittag in der Kantine isst er nur Gemüse, das ist das einzige, was sie hier gut zubereiten, sagt er. Sein einer Arm ist gelähmt, er steht immer leicht schief, als würde der unnütze Arm ihn herunterziehen.
Gerade wurde eine neue Qualitätsprüferin eingestellt, Maria (Alexandra Borbély). Sie ist blond und hübsch, Endre beobachtet vom Fenster aus, wie ihr Haar leicht im Wind weht. Aber sie spricht nicht viel, sucht keinen Kontakt, in ihren knielangen Röcken sieht sie züchtig aus wie eine brave Schülerin. Trotzdem ist sich Endres Kollege sicher: mit der wird es Ärger geben.
Es sieht so aus als würde er Recht behalten. Schon am ersten Tag gibt es Beschwerden. Maria deklariert das Fleisch der schönsten Rinder als B-Ware. Von Endre darauf angesprochen erklärt sie, die Tiere seien zu fett. Nur ein paar Millimeter, aber so steht es nunmal in den Vorschriften. Überhaupt ist die Kommunikation mit Maria nicht leicht, beim Mittagessen ist sie am liebsten für sich, an Unterhaltungen beteiligt sie sich nicht gern. Abends spielt sie in ihrer Wohnung mit Salzstreuern und Playmobil Figuren nach, was sie am liebsten gesagt hätte, denn eigentlich wünscht sie sich, mit Endre in Kontakt zu treten. Nur wie funktioniert das? Sie würde ihm gerne sagen, dass sie ihn schön findet, aber als sie dies tut, zwischen den Tischen in der Kantine, ist es auch nicht richtig. Sie sucht regelmäßig Rat bei ihrem Psychologen, den sie offensichtlich nicht erst seit gestern besucht. Die beiden sitzen zwischen Plüschtieren – er ist eigentlich Kinderpsychologe und findet, sie müsste doch langsam mal zu jemandem gehen, der sich besser mit Erwachsenen auskennt.
Die ungarische Regisseurin Ildikó Enyedi beobachtet ihre Protagonisten mit der gleichen Ruhe und Intensität wie die beiden Hirsche zu Anfang. Jede Bewegung, jeder Moment hat eine Bedeutung und gleichzeitig liegt über allem eine unbemühte Leichtigkeit. Ihr Film „Testről és lélekről – On Body and Soul“ läuft im Wettbewerb der Berlinale und ist bis jetzt mit Abstand der besonderste Film von allen. Ohne mit zu viel Schmackes auf die Firlefanztube zu drücken, erzählt er eine zärtliche Liebesgeschichte zwischen zwei gesellschaftlichen Außenseitern, die sich beide mit der Annäherung nicht leicht tun. Kein neues, kein besonders innovatives Motiv aber trotzdem irgendwie völlig anders, ohne dass man auf Anhieb sagen kann warum. Es ist Enyedis Liebe zum Detail, die Art wie selbst jede kleinste Nebenfigur eine Geschichte, eine Haltung erhält. Das Licht, das alles so klar und gleichzeitig schön beleuchtet, selbst die am Anfang grauselig expliziten Szenen aus dem Schlachthaus. Alles fügt sich zu einem sinnigen Gesamtkunstwerk, nichts ist nur schnödes Beiwerk, denn auch die Hirsche vom Anfang spielen im späteren Verlauf noch eine tragende Rolle.
Auf all das oben drauf dann noch diese wunderbar ungewöhnlichen Gesichter. In ihnen spiegelt sich das Leben mit all seinen Facetten. Nicht nur Alexandra Borbély und Géza Morcsányi füllen ihre Rollen mit beispielloser Intensität. Jede kleinste Rolle hat in diesem Film etwas zu sagen. Ein buchstäbliches Fest für Leib und Seele. Lasst die Bären los! Hier sind sie mehr als gut aufgehoben.
Auf der Berlinale: Gabi Rudolph