Filmkritik: „Anora“ von Sean Baker

Eine Romcom gewinnt die Goldene Palme bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes – so tönten zumindest die Schlagzeilen, als Sean Baker die begehrte Trophäe für seinen neuen Film „Anora“ mit nach Hause nehmen durfte. Wer die Arbeiten des amerikanischen Regisseurs kennt, dem dürfte jedoch schnell bewusst gewesen sein, dass es da einen Twist geben muss. Sean Bakers Interesse gilt den Randfiguren der Gesellschaft, den gebrochenen Charakteren wie die jungen Mutter in „The Florida Project“, die in einem Motel vor den Toren Disney Worlds lebt und sich im Schlafzimmer prostituiert, während ihre Tochter nebenan in der Badewanne sitzt. Oder der verhinderte Pornodarsteller Mikey in „Red Rocket“, der sich bei seiner Exfrau einquartiert und eine 17-jährige Donut-Verkäuferin zu seinem Co-Star machen möchte. Sean Baker und die Liebe, das klingt nach mehr als einem Fallstrick. 

Dabei ist „Anora“ auf seine eigene Art tatsächlich eine Romcom. Die junge New Yorker Sexarbeiterin Ani (Mikey Madison), deren voller Name, wie wir im Lauf der Geschichte erfahren werden, Anora lautet, begegnet darin dem verwöhnten russischen Oligarchen-Sohn Ivan (Mark Eidelshtein). In dem Stripclub, in dem sie arbeitet, wird sie ihm zugeteilt, da sie selbst russische Wurzeln hat und ein paar Brocken der Sprache beherrscht. Ivan verbringt seine Zeit mit Videospielen, Drogen und Zügen durch die Bars und Clips von New York, gemeinsam mit seinen Freunden, die alle aus der Service-Industrie stammen und denen Ivan großzügig ausufernde Parties schmeißt. Das kann schon auch mal ein Kurztrip mit dem Privatjet nach Las Vegas sein. 

Es ist also kein Wunder dass Ivan, selbst noch ein Teenager, von der etwas älteren, selbstbewussten und witzigen Ani umgehend fasziniert ist. Er bezahlt sie dafür, Zeit mit ihm zu verbringen, inklusive eben jenes Las Vegas Trips. Und was macht man, wenn man in Las Vegas ist und irgendwie schockverliebt? Richtig, man heiratet. Ani nimmt seinen Antrag ohne groß zu überlegen an, denn vom Geld einmal abgesehen, verstehen sie und Ivan sich irgendwie richtig gut. Und wie das mit dem Sex geht, so dass die Frau auch Spaß dabei hat, bringt sie ihm direkt mit bei. 

Natürlich sind wir hier nicht bei „Pretty Woman“. Und das wird Ani und den Zuschauer*innen schlagartig bewusst, als Ivans Eltern ihr Eintreffen in den USA ankündigen, um die unliebsame Situation zu regeln. Ani sieht sich plötzlich nicht nur mit zwei Bodyguards konfrontiert, die sie bis zur Annulierung der Ehe in Schach halten sollen, sondern muss auch erkennen, dass Ivan wenig Interesse daran hat, rebellisch für die Liebe zu kämpfen – er macht erst einmal ohne Umschweife die Biege. Ani soll helfen, ihn zu finden und muss schmerzhaft erkennen, dass nicht nur der Traum von der romantischen Liebe und einem Leben in Luxus geplatzt ist, sondern dass es auch gar nicht so leicht ist, wenigstens seine Würde zu behalten, wenn man gegen Giganten kämpft. 

„Anora“ ist Romcom, Screwball Komödie und Drama in einem. Mit seinen stolzen 140 Minuten ist er zum Teil etwas lang geworden, vor allem die Suche nach Ivan im zweiten Teil zieht sich etwas und bremst einiges von dem Tempo ab, das am Anfang aufgenommen wurde. Aber, wie so oft bei Sean Baker, die besondere Stärke des Films ist, dass keine Person hier nur eine Facette hat. Vanya ist ohne Frage ein stumpfes, verzogenes Muttersöhnchen, das nie die Realitäten der Welt kennengelernt hat und es wahrscheinlich auch nie tun wird. Aber in anderen Momenten versteht man ganz deutlich, was Ani an ihm findet. Ani selbst ist so bezaubernd wie nervtötend, das müssen nicht nur die Bodyguards erfahren. Und in deren Reihen findet sich schließlich noch eine ganz besondere Überraschung wieder. 

Trotz kleiner Schwächen ist „Anora“ Sean Bakers stärkster Film geworden. Noch nie ist es ihm so gut gelungen, die Balance zwischen Comedy, Action und Sozialkritik zu halten. Mit seinem bisher zwar größten, aber immer noch mehr als begrenzten Budget zaubert er auf 35mm betörende Aufnahmen auf die Kinoleinwand. Und wenn man die harschen Reaktionen betrachtet, die der wirklich vergleichsweise harmlose Erotik-Content des Films zum Teil beim Publikum auslöst, dann ist es ihm auch noch gelungen, uns im Jahr 2024 als Gesellschaft, die sich immer stärker wieder in Richtung Prüderie und Konservatismus bewegt, den Spiegel vorzuhalten. Und mit Mikey Madison als Ani hat er hoffentlich (und wenn dann rundum verdient) einen zukünftigen Star kreiert. 

„Anora“ startet am 31. Oktober 2024 in den deutschen Kinos.