Schon von Ryan Kaji gehört? Ryan Kaji ist der bestverdienende YouTuber der Welt mit einem geschätzten Jahreseinkommen von um die 30 Millionen US-Dollar. Auf seinem YouTube Kanal „Ryan’s World“ mit über 30 Millionen Abonnent*innen veröffentlicht er Wissensvideos, DIY-Tipps, kleine Sketche und, besonders beliebt, Unpacking und Review-Videos, in denen er Spielzeug testet. Moment – Spielzeug? Richtig, denn Ryan Kaji ist gerade einmal zehn Jahre alt. Dafür ist er erstaunlich produktiv, zwischen zwei und drei Videos veröffentlicht er die Woche, bei denen auch seine Mutter, sein Vater und seine kleinen Schwestern mithelfen. Immer ganz vorne mit dabei: Süßigkeiten, Fast Food, Plastikverpackungen und jede Menge Product Placement. Denn was auf den ersten Blick aussieht wie harmloser Familienspaß, an dem rein zufällig die ganze Welt teilhaben darf, soll vor allen Dingen eins: zum hemmungslosen Konsum anregen.
Kindheitstraum in Vollplastik
Spielzeug und Junk Food ohne Ende und dafür auch noch bezahlt werden? Klingt wie der Traum eines jeden Kindes. Aber wenn man sich etwas genauer ansieht, wie viel Arbeit in den Videos stecken muss, die bis zu 20 Minuten lang sind und von denen ein bis drei die Woche erscheinen, bekommt das Ganze einen fragwürdigen Beigeschmack (mal ganz davon abgesehen, dass Kinder im Internet einfach immer seltsam anmuten). Da die Videos aber im familiären Umfeld, in der Freizeit und augenscheinlich „nebenbei“ gedreht werden, ist es sehr schwer einzuschätzen, geschweige denn zu kontrollieren, wie viel Arbeit für die erfolgreichen Kinder-Influencer tatsächlich dahinter steckt – von denen es übrigens weit mehr gibt als nur Ryan Kaji. Auch kann man nur schwer die Augen davor verschließen, dass die treibende Kraft hinter dem angeblichen Kindheitstraum in der Regel die Eltern sind. Frankreich hat deshalb im Jahr 2020 ein Gesetz verabschiedet, das den kommerziellen Einsatz von Kindern in YouTube-Videos und auf anderen Social Media Kanälen regelt. Es besagt zum Beispiel, dass ein Teil der Einnahmen auf ein Treuhandkonto eingezahlt werden müssen und dass minderjährige Social-Media-Stars die Löschung älterer Inhalte verlangen können.
So viel zu den Fakten. Rein gefühlsmäßig lässt sich das Ganze wesentlich schlichter zusammen fassen: die Welt der Kinder-Influencer ist knallbunt, trashig und schrecklich gruselig. Von der kommerziellen Ausbeutung abgesehen: wer möchte freiwillig über Jahre hinweg eine Kindheit leben, die komplett im Licht der Öffentlichkeit stattfindet? Darüber hat sich auch die französische Schriftstellerin Delphine de Vigan Gedanken gemacht. Die Nöte von Kindern spielten bereits in ihrem Roman „Loyalitäten“ eine Rolle, in dem es um Alkoholismus unter Jugendlichen ging. Ihr neuestes Werk, „Die Kinder sind Könige“, spielt nun im Milieu der Kinder-Influencer. Darin trifft dieses gesellschaftlich brisante Thema auf den Spannungsbogen eines Krimis.
Der Reality-Star und die Ermittlerin
Mélanie Claux‘ größter Traum war es immer, Reality-TV-Star zu werden. Doch als ihre große Chance endlich gekommen war und sie Kandidatin in einer Dating Show wurde, platzte der Traum so schnell wieder, wie er begonnen hatte – sie schied in der ersten Runde wieder aus, weil niemand sich für sie interessierte. Später, als verheiratete Frau und Mutter, schafft sie sich ihr Reality Universum einfach selbst, indem sie anfängt, den Alltag mit ihren Kindern minutiös fürs Internet zu dokumentieren. Die Familie Claux wird zum Phänomen, die Kinder Kimmy und Sammy zu Stars, die mit ihrem YouTube Videos Millionen Menschen erreichen. Auch Mélanies Mann Bruno steigt in das Unternehmen ein und widmet sich Vollzeit der Produktion der Videos. Alles scheint perfekt, denn was will man mehr als Geld, Geschenke im Überfluss und eine Fanbase, die einen mit Kommentaren, Likes und Liebesbekundungen überschüttet? Nur Kimmy, die Jüngste, ist in letzter Zeit etwas unausgeglichen. Immer öfter verhält sie sich bockig und hat keine Lust, bei den Aufnahmen mitzumachen. Dann passiert das unaussprechliche Grauen: bei einem Versteckspiel mit Kindern aus der Wohnanlage verschwindet Kimmy. Etwas später trifft ein Umschlag ein, darin ein Polaroid von Kimmy und ein Päckchen, dazu die Aufforderung, dieses vor laufender Kamera auszupacken. Es enthält den Fingernagel eines Kindes.
Ermittlerin Clara Roussel ist mit dem Fall betreut. Für sie ist die Welt der Instagram und YouTube Kanäle, der Markenkooperationen und Kinderstars eine völlig fremde Welt. Aber sie taucht immer weiter hinein und versucht zu verstehen, was jemanden wie Mélanie Claux dazu bewegen könnte, Familie und Privatleben vor der ganzen Welt zur Schau zu stellen. Die beiden Frauen könnten nicht unterschiedlicher sein, aber sie müssen irgendwie an einem Strang ziehen, wenn sie Kimmy finden wollen, bevor ihr Schlimmeres zustößt.
Messerscharf ins Mutterherz
Es ist immer wieder faszinierend, mit welch schnörkellosem, messerscharfem Stil Delphine de Vigan ihre Geschichten auf den Punkt bringt. Dabei hat sie ein Händchen für Themen, die gleichermaßen schockierend wie faszinierend sind. Die Welt, in die sie einen in „Die Kinder sind Könige“ mitnimmt, ist ein paradoxes Phänomen: den meisten Menschen ist sie völlig unbekannt, gleichzeitig ziehen die Akteur*innen der Kinder-Influencer-Kanäle Millionen von Zuschauer*innen an. Eine Nische, aber eine absurd große. Wie Delphine de Vigan dazu steht, daran lässt sie keinen Zweifel. Aber obwohl der Entführungsplot erschreckend ist, kommt die Moral nie zu sehr mit dem Holzhammer daher. Dafür verfügt sie über zu viel erzählerisches Fingerspitzengefühl. Sie versucht eindeutig mehr zu verstehen als zu verurteilen. Ihre beiden Hauptakteurinnen beobachtet sie dabei, in all ihrer Unterschiedlichkeit, mit einem angenehm offenen Herzen, analysiert und respektiert sie. Wo viel Platz für platte Klischees wäre, entscheidet sie sich für sensibel studierte, dreidimensionale Charaktere. Auch daran, dass der kriminalistische Teil der Geschichte fast schon erstaunlich schnell aufgelöst wird und es trotzdem bis zum Schluss spannend bleibt, inklusive einem grauenvoll realistisch anmutendem Blick in die Zukunft, zeigt sich wieder einmal, was für eine großartige Erzählerin sie ist, die nicht nur aufklären, sondern immer auch unterhalten möchte.
Besonders (aber nicht nur) als Mutter zweier Kinder liest sich „Die Kinder sind Könige“ schrecklich, erhellend und trotzdem so spannend, dass man es kaum aus der Hand legen kann.
„Die Kinder sind Könige“ von Delphine de Vigan ist in deutscher Übersetzung bei DuMont erschienen.