We Listen and We Judge – Filmen oder nicht filmen…?

Fred again in Glasgow © Harriett K. Bols

Unsere Redakteurinnen Ali und Gabi werfen wieder einmal einen Blick auf die wichtigsten Themen der Woche aus Musik und Popkultur. „We Listen & We Judge“ ist eine gekürzte Fassung ihres kontinulierlichen Dialogs per Text- und Sprachnachricht und zeigt starke Meinungen, aber auch eine große Liebe zur Musik. Diesmal geht es um das leidige Thema der Omnipräsenz von Handys bei Konzerten und darum, wie Künstler*innen versuchen, sie von ihren Shows zu verbannen, wie Fred again auf seiner aktuellen “USB002 – Tour”. Filmen oder nicht filmen …?

Ali: …das ist die Frage, die viele Konzert-Liebhaber*innen spaltet. Sollte man während eines Konzerts permanent mit dem Handy filmen oder Fotos machen? In Clubs sind Handys schon seit einiger Zeit verboten, jetzt erleben wir das auch verstärkt bei Konzerten. Gabi, du hast Fred again kürzlich auf seiner aktuellen USB002-Tour gesehen, die Show war als “Phone Free” angekündigt. Wie war das so?

Gabi: Sagen wir so, es war ein ambitionierter Versuch, vor allem für eine Show dieser Größe. Sie haben Aufkleber über die Handykameras geklebt, wie es in den meisten Berliner Clubs üblich ist. Noch bevor die Show losging, sagte die Frau neben mir: „Aber was soll das denn? Es ist doch nur ein Aufkleber, den kann ich doch einfach abziehen, oder?“ Na ja, kann man. Und hat sie dann auch getan. Etwa eine halbe Stunde nach Beginn der Show fing sie an zu filmen.

In Clubs ist es eher eine Frage der Ehre, ein Verhaltenskodex. Man filmt dort einfach nicht, und die Aufkleber erinnern einen sanft daran. Allerdings sind Clubs auch ein kleineres Umfeld als ein Konzert mit 15.000 Leuten. In einem Club wie dem Berghain zum Beispiel lässt man das Handy am besten direkt in der Tasche. Wenn da auch nur jemand den Verdacht hat du könntest deinen Aufkleber abmachen, geschweige denn filmen, dann bist du schnell wieder draußen.. Das bei einer Veranstaltung dieser Größe durchzuziehen, ist einfach nicht möglich, oder?

Ali: Finde ich auch – klingt nach einem ehrgeizigen Unterfangen!!

Gabi: Also, entweder bin ich treue Clubgängerin oder übermäßig gehorsame Deutsche…

Ali: Ihr Deutschen liebt Regeln!

Gabi: Offensichtlich! Ich habe mein Handy die ganze Show über in der Tasche und die Aufkleber auf meiner Kamera gelassen. Ich stand ganz vorne und ehrlich gesagt hätte ich gerne ein paar Videos aus dieser Perspektive gemacht. Aber während der Show habe ich nicht einmal daran gedacht. Ich hatte zwar damit gerechnet, dass einige Leute es nicht respektieren und anfangen würden zu filmen. Aber als ich mich gegen Ende der Show umgesehen habe, war ich trotzdem überrascht, dass mindestens die Hälfte des Publikums gefilmt hat. Ich fand das ein bisschen traurig. Am Tag vor der Show hatten sie eine E-Mail verschickt um zu erklären warum sie das machen – um den Leuten die Möglichkeit zu geben, mehr im Moment zu sein. Irgendwie schade, dass ein Künstler seinem Publikum dieses von Herzen kommende Angebot gemacht hat und die Leute es nicht respektiert haben.

Ali: Du warst in Schottland, meiner Heimat! Dort herrscht eher die Einstellung: „Lass dich nicht erwischen!“ Aber ich habe mich, seitdem ich vor zwei Jahren hierher gezogen bin, sehr an die dänischen Gepflogenheiten gewöhnt und ich glaube, ich wäre genauso gehorsam wie du gewesen! Außerdem finde ich, dass es sehr befreiend ist, sich im Moment zu verlieren. Wir haben ja die gegenteilige Erfahrung gemacht, als wir Fred letzten Monat in Rom gesehen haben. Eine Frau vor mir hat einen Großteil der Show damit verbracht, entweder für Selfies zu posieren, für Fotos mit ihrer Freundin zu posieren, von ihrer Freundin gefilmt zu werden oder währenddessen eine andere Freundin, die nicht dabei war, über FaceTime anzurufen. Das alles macht mich wahnsinnig und ich verstehe durchaus, warum jemand wie Fred versucht, Handys zu verbieten. Es ist ein riesiger Unterschied, ob man ein paar kurze Videos zur Erinnerung aufnimmt, was ich auch gerne tue, oder ob man ein Konzert in seine eigene Privatparty verwandelt, bei der das Handy die Privatsphäre der anderen bestimmt. Oder?

Gabi: Stimme ich voll und ganz zu. Ich denke, es ist ein großer Unterschied, ob man ein paar Fotos und Videos vom Konzert macht oder massenhaft Content für aufwendige TikTok-Videos produziert, in denen es mehr um einen selbst als das Konzert an sich geht. Ich habe das zum ersten Mal erlebt, als ich Olivia Rodrigo letztes Jahr gesehen habe. Während eines Songs sprang plötzlich eine ganze Gruppe junger Leute auf, stellte sich in einer Reihe auf und führte eine einstudierte Choreografie auf. Sie trugen passende Shirts und wurden von zwei Leuten aus verschiedenen Winkeln mit eingeschalteten Handytaschenlampen gefilmt. Ich dachte nur: Wow, das ist neu! Ich meine, süß, viel Spaß. Aber es hat auch ein bisschen gestört. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass das für diese jungen Leute der eigentliche Höhepunkt der Show war. Sie müssen ihren Stunt eine ganze Weile geübt haben. Hat ihnen das Konzert wirklich Spaß gemacht? Oder haben sie die meiste Zeit darauf gewartet, dass dieser eine Song kommt und sie endlich dran sind?

Ali: Die Leute haben sich so daran gewöhnt, ständig für die sozialen Medien zu posieren, dass sie es einfach nicht mehr lassen können. Ich möchte dann am liebsten sagen: Setzt euch hin und seid still! Gut, ihr müsst nicht wirklich still sein, aber das hier ist nicht eure Show! Und es stört einfach die anderen im Publikum.

Gabi: Ich finde, wie bei allem muss man auch hier differenzieren. Leute, die sich über das Filmen bei Konzerten beschweren, sagen oft, es lohne sich gar nicht, weil man sich die Videos nie wieder anschaut. Für uns beide stimmt das definitiv nicht. Ich schaue mir meine Konzertvideos oft an. Und selbst wenn wir beide die Videos der jeweils anderen bereits gesehen haben, schicken wir sie uns noch oft gegenseitig zu, um über bestimmte Momente zu sprechen und sie uns in Erinnerung zu rufen. Und ich glaube nicht, dass es automatisch bedeutet, dass man nicht im Moment ist, wenn man ein paar Videos macht. Ich mache gerne ein paar, aber die meiste Zeit genieße ich einfach das Konzert. Ich werde aber nie verstehen, wie jemand ein komplettes Konzert filmen oder live über seine sozialen Netzwerke streamen kann. Und ja, das passiert, definitiv!

The 1975 Still… At Their Very Best © Gabi Rudolph

Ali: Stimmt. Man kann hier und da filmen und trotzdem im Moment sein. Und diese Videos noch lange danach als Andenken genießen. Eine komplette Show zu filmen oder, schlimmer noch, live zu streamen – ich verstehe es einfach nicht. Das mit dem Livestreaming finde ich wirklich interessant. Das ist 2023/24 auf der letzten Tour von The 1975 sehr viel passiert. Irgendein Fan hat immer eins der Konzerte live gestreamt. Eine Gruppe von Fans hat sogar ein Wohltätigkeitsprojekt daraus gemacht. Ich habe mir keinen dieser Livestreams angesehen, ich fand das irgendwie frustrierend und langweilig. Wenn ich nicht dabei sein konnte, wollte ich es nicht über das Handy von jemand anderem sehen, wo der Ton schrecklich ist und die Verbindung alle paar Minuten abbricht. Aber ich habe viel drüber nachgedacht: Möchten Artists tatsächlich, dass ihre Konzert live gestreamt werden? Ruiniert das nicht für Fans, die zu zukünftigen Konzerten kommen, ein Teil des Überraschungsmoments? Habe ich als Musikliebhaber*in ein Recht darauf, jedes Konzert per Live-Schaltung zu sehen, nur weil ich nicht persönlich dabei sein kann? Haben Fans ganz grundsätzlich das Recht, ein Event live zu streamen?

Ganz ehrlich: es nervt. Genauso wie der Trend, seine Freunde von Konzerten aus via Facetime anzurufen. Während ich versuche, zuzuschauen, muss ich auf einem Bildschirm direkt vor mir in das Gesicht von jemandem schauen, der gar nicht im Raum ist! Ich finde das eigentlich sehr egoistisch. Wobei ich denke, dass Fans, die live streamen wahrscheinlich denken, dass sie einen Dienst an der Gesellschaft leisten. Das konnte man gut an den Fans von The 1975 beobachten, die live gestreamt haben, um Geld für wohltätige Zwecke zu sammeln. Aber wenn Artists keine Grenzen setzen, wie Fred es offensichtlich versucht, denken die Leute nicht darüber nach, was vernünftig ist und was nicht. Sie denken nur an ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche.

Gabi: Ich stimme dir beim Livestreaming voll und ganz zu. Ich fand es wirklich nervig. Bei manchen Fans, die es regelmäßig gemacht haben, habe ich mich gefragt, ob sie in erster Linie da waren um das Konzert zu genießen. Oder ob es ihnen vor allem um die Anerkennung der Fangemeinde ging. Ich weiß ganz sicher, dass ich ein Konzert nicht genießen könnte, wenn ich die ganze Zeit mein Handy halten und mich möglichst wenig bewegen würde, um das Bild nicht zu verwackeln. Manche haben es gezielt genutzt, um ihre Followerzahlen in den sozialen Medien zu erhöhen. Ich weiß nicht. Vielleicht klinge ich in dem Punkt alt, aber grundsätzlich ist meine Meinung: Wenn du Geld bezahlst, um zu einem Konzert zu gehen und stundenlang anstehst, um ganz vorne zu stehen, dann solltest du das für dich selbst und dein eigenes Erlebnis tun und für nichts und niemanden sonst.

Ali: Hundert Prozent.

Jack White London, 2018 © David James Swanson

Gabi: 2018, während seiner Boarding House Reach Tour, hat Jack White Handys komplett von seinen Konzerten verbannt, indem er sie in sogenannten Yondr Pouches hat einschließen lassen. Man hatte sein Handy die ganze Zeit dabei, aber in diesen Taschen, die magnetisch verschlossen waren und nur außerhalb des Venues an bestimmten Zugangspunkten geöffnet werden konnten. Und ich muss sagen – das war mit das beste Publikum, das ich je erlebt habe. Die Leute sind ausgeflippt! Hände in die Luft, gesprungen, geklatscht und die ganze Zeit getanzt. Und ich habe bei diesen Konzerten auch so viele Leute kennengelernt, weil man nicht auf sein Handy gucken konnte, während man gewartet hat, dass es los geht. Die Leute haben sich tatsächlich miteinander unterhalten. Es war eine ganz besondere Atmosphäre.

Ali: Interessant, dass die Leute das so mitgemacht haben. Wahrscheinlich weil sie keine andere Wahl hatten. Sie konnten die Tasche nicht öffnen. Fred hingegen benutzt Aufkleber, und die Leute kümmert das wenig, weil sie sie einfach abmachen können. Wie viele Leute waren bei Jacks Konzerten? Kann man dieses System auch mit 20.000 Leuten anwenden?

Gabi: Nein, ich glaube nicht. Das waren Shows mit maximal 5.000 Zuschauern. Ich habe gehört, dass das System ursprünglich für große Comedy-Shows entwickelt wurde, um Comedians einen sicheren Raum zu bieten, in dem sie neues Material ausprobieren und verhindern können, dass es nach außen dringt. Das muss ein ziemlicher Mehraufwand für die Produktion sein, man braucht eine Menge zusätzliches Personal. Auf seiner letzten Tour hat Jack White die Yondr Pouches nicht mehr benutzt. Ich frage mich, ob er einfach aufgegeben hat oder ob es zu teuer war. Oder – steile These– ob er die kostenlose Werbung, die Material seiner Live-Show in den sozialen Medien generiert, eigentlich gar nicht so schlecht findet? The 1975 haben viele neue Fans gewonnen, als sie 2023 plötzlich zu einem TikTok-Phänomen wurden, oder?

Ali: Das haben sie, aber ich bin mir nicht sicher, ob das gut war. Für Matty Healy als Frontmann schien es irgendwann ziemlich toxisch zu werden. Er stand unter Druck, ständig auf alles reagieren und die Show verändern zu müssen, um sie frisch zu halten. Gegen Ende der Tour, während der Konzerte, die wir zusammen besucht haben, hatte ich ein bisschen das Gefühl, ihm live bei einem Nervenzusammenbruch zuzusehen, den der ganze Social Media Hype zumindest mit ausgelöst hat. Er hat später im Doomscroll-Podcast ein bisschen darüber gesprochen. Ich bin sicher, für manche war das einfach fabelhafte Unterhaltung. Es war nie ganz klar, was Performance und was ein echtes psychisches Problem war. Ich fand es teilweise ziemlich verstörend. 

Ich hatte aber auch das Gefühl, dass die toxische Atmosphäre sich genauso auf die Fans übertragen hat. Die Leute haben angefangen wettzueifern, wessen Show die beste war, wer die beste Setlist bekam, wer die meiste Interaktion mit der Band hatte, wer den meisten Blickkontakt von Matty bekam, wer ganz vorne stand, ja sogar, wer die meisten Shows gesehen hat. Die Antwort wird immer lauten: Nicht du. Es sei denn, du bist dieser eine Fan, der buchstäblich zu jeder einzelnen Show auf der ganzen Welt gegangen ist. Manche Leute, vor allem jüngere Fans, die in der Regel mehr online sind und es sich eher nicht leisten können zu mehreren Shows zu gehen, hatten ständig dieses Gefühl von FOMO und gleichzeitig den Zwang, alle Livestreams zu schauen. Und die Realität ist: Ohne die Livestreams und die zahllosen TikTok-Videos hätte niemand gewusst, was er verpasst. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir diesen endlosen Content eigentlich nicht haben sollten. Und damit wären wir wieder bei unseren Rechten und Pflichten in Bezug auf Smartphones.

Gabi: Was Freds aktuelle USB-Tour angeht, bin ich etwas hin- und hergerissen, was das Handyverbot angeht. Ich würde bei diesen Shows wirklich gerne einfach nur in einer ausgelassenen Menge tanzen, wie in einem Club. Aber ich glaube nicht, dass das funktionieren wird. In Brüssel, eine Woche nach der ersten Show in Glasgow, haben sich Leute im Publikum anscheinend sogar wegen der Handys gestritten. Es sind einfach keine Club-Shows – Fred ist eine große Nummer und Leute aus der ganzen Welt kommen, um ihn zu sehen. Manche haben jahrelang auf diesen Moment gewartet, andere werden ihn vielleicht nie wiedersehen. Ich verstehe irgendwie, dass sie eine Erinnerung an diesen Moment haben wollen. Und ehrlich gesagt ist es mir lieber, wenn Leute um mich herum filmen, als dass sie sich deswegen streiten

Ich meine, ich verstehe seine Intention. Er will das Club-Feeling, er will, dass es mehr ein Rave ist als ein Konzert. Aber ich glaube, er ist leider zu groß dafür geworden. Vielleicht muss er das einfach akzeptieren. Und die Stimmung war trotzdem super, obwohl Leute gefilmt haben. Ehrlich gesagt bereue ich fast, so brav gewesen zu sein. Ich hätte wirklich gerne ein paar Videos von der Show! Andererseits habe ich die Momente, an die ich dabei denke, immer noch sehr deutlich im Kopf. Und darum geht es doch letztendlich, oder? Was ich allerdings wahnsinnig komisch finde ist, dass Leute im Internet aktiv nach diesen Handyaufklebern als Erinnerungsstück suchen, lol. Scheint zumindest für etwas gut zu sein!

Ali: Wirklich! Also, mein legendärstes Konzert war Prince 2008 in der O2-Arena in London, mein absoluter Lieblingskünstler. Natürlich habe ich davon keine Videos, aber ich erinnere mich noch sehr genau daran. Dir als Prince-Fan geht es bestimmt genauso. Wenn Prince noch leben und auftreten würde, hätte er wohl allen die Handys weggenommen und weggesperrt! Oder einfach alle mit seiner schieren Persönlichkeit gezwungen, sie weg zu stecken. Er hätte keine Sticker gebraucht! Oder Livestreams! Er hätte gesagt: Lebe im Moment! Oder?

Gabi: Prince hatte diese unglaubliche natürliche Autorität, nicht wahr? Prince sagt es, du tust es! Ich erinnere mich noch an das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, 2010. Bevor er auf die Bühne kam, gab es eine Ankündigung, dass Prince es begrüßen würde, wenn die Leute nicht filmen oder fotografieren würden. Damals war das Filmen bei Konzerten noch nicht so verbreitet, aber es war bereits möglich. Und trotzdem war weit und breit kein Handy zu sehen. Meine Freundin hat jedoch heimlich ein einziges Foto von ihm gemacht, und ich habe es immer noch und halte es zutiefst in Ehren. Ich dachte an diesem Abend keine Sekunde, dass es das letzte Mal sein würde, dass ich ihn sehe.

Ali: Wir müssen Prince’ Spirit zurückbringen. Für ihn drehte sich alles um die Musik, und darum sollte es bei einem Konzert im Grunde gehen. Alles andere ist zweitrangig!

Prince 2010 @ Michaela Marmulla