We Listen and We Judge – Ein Wochenende mit Charli XCX und Sam Fender

© Niall Lea

In unserer neuen Reihe werfen unsere Redakteurinnen Ali und Gabi einen Blick auf die wichtigsten popkulturellen Gesprächsthemen der Woche. „We Listen and We Judge“, eine bearbeitete Version des nahezu konstanten Dialogs, den die beiden über Text- und Sprachnachrichten führen, bietet starke Meinungen, aber auch eine sehr starke Liebe zu allem, was mit Musik zu tun hat. Diese Woche dreht sich alles um ihren Ausflug nach England letzte Woche, um das von Charli XCX kuratierte Lido Festival in London und Sam Fenders letztes von drei aufeinanderfolgenden Heimspiel-Konzerten im St James’ Park Stadion in Newcastle zu sehen.

Gabi: Für uns beide stand es außer Frage, dass wir zu diesen Konzerten wollten. Du bist wahrscheinlich der größte Charli XCX-Fan, den ich kenne. Ich liebe Sam Fender. Als wir wieder Zuhause waren, hast du mir eine Nachricht geschickt: „Weißt du, dass wir bei den Musikevents des Wochenendes in England waren?“ Wir hatten nicht einmal darüber nachgedacht, was diese beiden Events popkulturell bedeuten – wir waren einfach nur als Fans und Musikliebhaberinnen da. Aber ich habe mich gefragt, besonders da du ja aus England kommst kommst, warum denkst du, warum gab es so einen Hype um diese Shows?

Ali: Es war ein unglaubliches Wochenende! Ich wollte einfach nur Konzerte erleben von zwei Acts, die ich liebe, aber als ich dann nach Dänemark zurückkam und einen Blick auf die Medien geworfen habe, dachte ich, ja, tatsächlich, das waren wirklich die beiden großen Events des Wochenendes!

Ich denke, der Hype um Charli ist nach wie vor riesig. Und das wird sich auch so schnell nicht ändern. Jede ihrer Shows ist ein Happening! Das Lido Festival war jedoch besonders, weil sie das Line-up selbst kuratiert hatte und es eine seltene Gelegenheit war, jemanden wie Gesaffelstein zu erleben, sowie zu sehen wie sie die Bühne mit Künstler*innen teilt, die Teil der Charli-Welt sind und die sie wirklich inspiriert haben. Sie ist so eine Musikliebhaberin – ich habe das Gefühl, dass die Leute das an ihr nicht zu schätzen wissen. Sie sehen die Haare und die Unterwäsche und wie sie tanzt. Sie sehen nicht, was für eine Künstlerin sie ist und ihre große Leidenschaft für elektronische Musik. Ich denke, das ist ihre wahre Motivation – ich glaube nicht, dass es so sehr darum geht, ein riesiger Star zu sein, und es geht definitiv nicht darum, heiß zu sein!

Ich habe Charli schon dreimal zuvor gesehen, aber ich habe sie noch nie mit A.G. Cook auf der Bühne gesehen, zum Beispiel, einer ihrer engsten Kreativpartner. Das war wirklich besonders. Wie fandest du es, ihre BRAT-Show zum ersten Mal zu sehen?

Gabi: Ich habe Charli XCX 2019 zum ersten Mal gesehen, und ich erinnere mich, dass ich schon damals wahnsinnig beeindruckt war, wie sie die Bühne ganz allein gerockt hat. Keine Tänzer, kein DJ, nicht einmal eine super aufwendige Video- oder Lichtshow – nur sie! Ich finde, es erfordert viel Kraft und Selbstvertrauen, eine Show wie diese ganz allein zu tragen. Und sie hat das mit ihrer BRAT-Show wirklich auf die nächste Stufe gehoben. Sie feiert einfach eine Party auf der Bühne, oder? Und das überträgt sich direkt auf das Publikum. Wie die Leute getanzt, gesungen und gefeiert haben, es hat sich angefühlt als wäre man in einem Club nicht in einer riesigen Festivalmenge. Charli steht da oben auf der Bühne, aber es fühlt sich an, als würde sie einfach mit uns tanzen. Ich denke, das ist wahrscheinlich das, was ich am meisten an ihr liebe – sie genießt es einfach so sehr.

Und das macht sie letztendlich weniger performativ als viele andere weibliche Popstars. Ja, sie steht da oben und schüttelt ihren Popo, aber mit der gleichen Energie, als würde sie es in einem Club auf der Tanzfläche oder sogar zu Hause in ihrem eigenen Wohnzimmer tun. Vielleicht ist das der Grund, was die Leute an ihr anzieht. Es ist weniger „Ich mache das für euch“, sondern eher wie „Ich mache das MIT euch“. Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie auch noch bei der Aftershow-Party war und bis 3 Uhr morgens getanzt hat Sie ist wirklich das 365-Party-Girl. Ich bewundere ihre Energie sehr.

Ali: Ja, ich stimme dir völlig zu, die ganze Stimmung ist wie in einem Club. Man hat das Gefühl, man ist mit seinem hedonistischsten Freund unterwegs und wird von ihrer Begeisterung mitgerissen. Es fühlt sich sehr kollaborativ und nicht performativ an.

Die Afterparty! Also, wir haben Lido gegen 23 Uhr verlassen, sind falsch durch den Victoria Park gegangen und hinter einem verschlossenen Tor gelandet. Ein junges Mädchen kam dann aus einem der gegenüberliegenden Häusern und hat uns gerettet. Sie hatte eine Trittleiter und half einer großen Gruppe von uns über den Zaun. Sie war so lässig dabei – sie meinte, das passiert die ganze Zeit! Dieser Zaun – ich habe immer noch blaue Flecken davon!

Und dann ging es auch schon weiter. Wir haben uns in einem kleinen Laden Chips und Coke Zero geholt und uns eine Stunde lang für die Afterparty im Club Colour Factory angestellt. Nichts hält uns auf! Zu dem Zeitpunkt war ich völlig durch – meine Füße taten so weh – aber wir haben A.G. Cook und Kelly Lee Owens auflegen gesehen. Kelly ist unglaublich! Wir haben ihr Set beim Lido verpasst, weil wir unsere Plätze in der Menge für Charli nicht aufgeben wollten, also war es großartig, sie sozu sehen.

Und natürlich sind Charli und George Daniel, ihr Verlobter, Co-Produzent und Schlagzeuger von The 1975, aufgetaucht, um ein bisschen zu tanzen. Angesichts der Tatsache, dass Charli am nächsten Tag beim Parklife Festival in Manchester aufgereten ist und in der Woche noch eine Reihe von Konzerten vor sich hatte, ist es erstaunlich, dass sie überhaupt gekommen ist. Aber ich denke, sie kann einfach nicht widerstehen! Sie liebt es, im Club zu sein.

Wir waren super k.o., aber es hat sich so gelohnt. Wir sind einfach ein super Team, da wir beide genau die gleiche Einstellung zu solchen Situationen haben. Ich erinnere mich, dass ich zu dir gesagt habe, wir bleiben bis 3 Uhr morgens und sehen dann, was passiert. Es kam uns nie in den Sinn, nicht zu dieser Afterparty zu gehen!

Gabi: Und dann haben wir etwa eine Stunde geschlafen und sind mit dem 7-Uhr-Bus nach Newcastle gefahren, um Sam Fender zu sehen. Die meisten Leute, wenn ich ihnen von den Dingen erzähle, die wir tun, schauen mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Sie sagen: „Ihr seid verrückt, ich könnte das nie tun!“ Ich höre das oft, komischerweise meistens von Leuten, die viel jünger sind als wir. Es war eigentlich gar nicht so schlimm, oder? Wir haben im Bus ganz gut geschlafen und uns bei einem Zwischenstopp warme Greggs-Teilchen zum Frühstück gegönnt, sehr passend, denn Sam Fender Greggs liebt Greggs. Es verbindet uns, dass wir bei diesen Konzertreisen durchgehend gemeinsam ein durchgehendes Hochgefühl haben.

Und ich war so unglaublich aufgeregt, Sam Fender in Newcastle zu sehen! Ich wollte ihn schon 2023 unbedingt sehen, als er zum ersten Mal im St. James’ Park gespielt hat. Aber es war unmöglich, Tickets zu bekommen. Ich kann immer noch nicht wirklich fassen, wie wir es diesmal geschafft haben. Seine Musik bedeutet mir sehr viel. Sie ist so emotional und herzzerreißend und traurig und macht gleichzeitig so glücklich. Vielleicht liegt es daran, dass ich ihn während der Pandemie entdeckt habe – er gibt mir ein starkes Gefühl von Gemeinschaft und Zugehörigkeit, besonders wenn ich ihn zusammen mit anderen Menschen live erlebe. Und er ist ein lokaler Held in Newcastle. Die Leute sind so stolz auf ihn und lieben und schätzen ihn wirklich. Ich hatte das Gefühl, dass es sehr besonders sein muss, ihn dort zu sehen, zu wissen, wie sehr er die Leute ihn dort lieben und wie besonders es für ihn ist, dort zu spielen.

Und es war wirklich so! Es war eine Art musikalische Pilgerreise für mich. Ich hatte so viele Videos aus 2023 gesehen, und als wir in Newcastle ankamen und endlich in diesem Stadion standen, konnte ich nicht glauben, dass wir es wirklich dorthin geschafft haben. Ich hätte fast geweint. Jetzt, jedes Mal, wenn ich Videos von den Konzerten sehe, schicke ich sie dir und sage: Ich kann nicht glauben, dass wir wirklich dort waren!

Ali: Ich weiß ehrlich gesat nicht, wie ich Sam Fenders St. James Park-Show in Worte fassen soll. Es war eine enorm emotionale Erfahrung. Über 50.000 Fans in einem Stadion in seiner Heimatstadt, dem Heimstadion der Fußballmannschaft, der er so viele Male als Newcastle-Fan beigewohnt hat – es war riesig. Die Menge hatte so viel Liebe für ihn, aber auch er für die Menge. Er liebt diesen Ort und er hat die Show so intim gemacht. Es war eine Feier für und mit den Menschen, die Teil seiner Reise als Künstler waren. Sein Gitarrenlehrer, sein Bruder, Freunde, die ihn unterstützt haben, wie Olivia Dean und CMAT.

Du hast mir irgendwann die beiden jungen Jungs in der Menge neben uns gezeigt – sie waren vielleicht ein bisschen älter als mein Sohn, der 14 ist, und sie haben sich sich buchstäblich die ganze Show über aneinander geklammert. Ich kann nicht genug betonen, was Sam Fender für junge Männer aus Arbeitergemeinschaften wie North Shields tut. Du hast etwas gesagt, wie er der Stadt etwas gibt, auf das sie stolz sein kann. Das vom Gefühl her ähnlich euphorisch wie Fußball ist, aber weit darüber hinausgeht. Ich denke, das ist so wahr.

Gabi: Ich habe seitdem viel darüber nachgedacht. Die ganze Atmosphäre war so friedlich und fröhlich. All diese tausenden von Menschen gehen in ihren Newcastle- und Sam Fender-Shirts ins Stadion, um gemeinsam zu feiern. Vom Gefühl her ist es ein bisschen wie Fußball, nur dass es nichts zu verlieren gibt. Es wird in dieser Nacht keine Gewinner und keine Verlierer geben, jeder wird mit der gleichen Freude und dem gleichen Glück nach Hause gehen. Die Art und Weise, wie die Leute danach die Straßen überflutet und nach Chips und Getränken gejagt. Überall glückliche Gesichter! Aber omg, wie wir während der Show geweint haben!

Ali: Ich habe angefangen zu weinen, als er „Spit of You“ gespielt hat, und ich habe einfach nicht mehr aufgehört. So sehr ich Musik liebe, so bin ich normalerweise nicht! Aber das ist Sam – er ist ein wirklich, wirklich besonderer Künstler. Und wie wir schon gesagt haben, wo sonst könnte man ein solches Ereignis an einem solchen Ort sehen, ohne Aggression, ohne Stress, ohne machohaftes Verhalten? Du hast einmal gesagt, Künstler bekommen das Publikum, das sie verdienen.

Gabi: Die Botschaft, die Künstler an ihr Publikum senden, ist so wichtig. Sam Fenders Botschaft handelt von Freundlichkeit, Gemeinschaft, Zugehörigkeit, an sich selbst zu glauben und über sich selbst hinauszuwachsen. Es ist so gesund und heilend in einer Zeit, die von Aggression, Nationalismus und bösartiger Rhetorik geprägt ist. Ich erinnere mich, wie du mir vor ein paar Jahren gesagt hast, wie wichtig du jemanden wie Sam als Vorbild für deine beiden Söhne findest. Und jetzt liebt einer von ihnen tatsächlich seine Musik und hat sich sein Album auf einer Klassenfahrt gekauft. Ich hätte fast geweint, als du mir das erzählt hast!

Ali: Und sie heißen auch noch beide Sam! Mein Sam hat jetzt eine Band, also vielleicht wird er eines Tages vor Publikum spiele. Ich frage mich, wie es sich für Sam Fenders alten Lehrer und seine Kindheitsfreunde anfühlt, zu sehen, wie erfolgreich er geworden ist. Sie müssen so stolz sein.

Gabi: Diese beiden Shows hätten nicht unterschiedlicher sein können. Aber ich habe das Gefühl, dass sie beide eine viel größere Dimension hatten als eine reguläre Pop-Show. Das Gefühl von Gemeinschaft war an diesem Wochenende wirklich stark. Ich denke auch an all die jungen queeren Kids, die wir bei beiden Konzerten getroffen haben. Die lesbischen Mädchen aus Newcastle, die so interessiert an deiner langjährigen Beziehung waren! Oder die beiden schwulen Jungs aus den USA beim Lido Festival. Offen schwul zu sein ist nicht mehr so einfach wie früher, und die ganze Welt verändert sich nicht zum Besseren, was das betrifft. Besonders in den USA. Sie waren so liebenswert und entspannt, und es macht mich so glücklich, dass es Künstler gibt, die es schaffen, eine Atmosphäre wie diese bei ihren Shows zu schaffen, eine von Einheit und Akzeptanz. Es ist nicht nur Unterhaltung. Es ist wichtig für unsere Gesellschaft.

Ali: Mit 45 fühle ich mich privilegiert, dort zu sein und erleben zu dürfen, wie Musik die Menschen verbindet. Besonders in Bezug auf das Alter gibt es so viele Menschen in ihren 40ern und darüber hinaus, die so gut wie nie mit jüngeren Menschen zu tun haben und nicht wissen, dass wir alle so viel mehr gemeinsam haben, als wir denken. Einige der polarisierenden Positionen rund um Identität, die wir gerade in England erleben müssen – es gibt eine Kluft zwischen Gen Z und Gen X, vielleicht sogar zwischen Millennials. Ich bin so glücklich, dass Musik diesen gemeinsamen Raum und ein gemeinsames Verständnis schafft. Wir beide fühlen uns so wohl in den ersten Reihen bei einem Konzert, umgeben von Teenagern und Kids in den 20ern, und das ist eigentlich nicht so selbstverständlich. Erinnerst du dich an den 17-jährigen, der zu uns sagte: „Ihr seid die besten Leute, die man bei einem Konzert neben sich haben kann“?! Aber bei Sam war die Menge auch so unterschiedlich. Da waren Frauen und Männer, Junge und Alte, queere Menschen und Heterosexuelle, alle zusammen vorne an der Bühne. Das ist wirklich ziemlich selten, finde ich.

Ach, ich könnte ewig über diese beiden Shows reden!

Der Beitrag ist ursprünglich auf Englisch erschienen und wurde ins Deutsche übersetzt. Das englische Original lest ihr hier.