„I’m not your toy, you stupid boy!“ – so der eingängige Chorus des diesjährigen ESC-Gewinnersongs aus Israel. Am 12. Mai um 00:40 Uhr steht es fest: Die quirlige Sängerin Netta Barzilai hat mit ihrem bunten Popsong „Toy“ mit einer durchaus starken Message den Eurovison Song Contest 2018 gewonnen, der insgesamt vierte Sieg für den Mittelmeerstaat. Die Halle bebt und tanzt vor Begeisterung, war der Song doch über Monate hinweg bis hin zum Finale ein großer Fan Favorit gewesen. Auch aus deutscher Sicht gibt es Positives zu vermelden: Michael Schulte hatte es den Kandidaten aus den letzten Jahren nicht gleichgetan, sondern konnte am Ende einen tollen vierten Platz für sich und für Deutschland verbuchen. Mit ein bisschen Abstand zum großen Finale ist es für uns daher nun an der Zeit zurückzublicken und euch an unseren unvergesslichen Erlebnissen in der Lisabonner Eurovision Bubble teilhaben zu lassen.
Nach dieser energiegeladenen Final-Show wollten wir nicht wahrhaben, dass das Abenteuer Eurovision 2018 tatsächlich schon vorbei sein sollte. So ganz war das auch noch nicht der Fall, denn ein Highlight stand noch auf dem Programm: Hatten wir soeben noch bei aufgeladener Stimmung im Pressezentrum bei der Punktevergabe mitgefiebert, machten wir uns auf zur Gewinner-Pressekonferenz. Israelische Pressevertreter können ihr Glück kaum fassen und liegen sich heulend in den Armen, die Freude ist riesig. Während wir dort beim Einlass anstehen, läuft Mr. Lordi („Hard Rock Hallelujah“ forever!) in voller Monstermontur gemächlich an den Presseleuten vorbei, business as usual. Was waren das doch 2006 für Glanzzeiten für Finnland, das 2018 mit Saara Alto zwar mit einer zirkusreifen Performance im Finale vertreten war, allerdings abgeschlagen im hinteren Bereich landete.
Zu den Tönen ihres Siegertitels erscheint die israelische Sängerin mit dem pinkfarbenen Kimono sichtlich ergriffen im Saal. Netta antwortet bei der Pressekonferenz mal scherzend, mal ernsthaft auf die Fragen der internationalen Presse.
„I celebrate myself no matter what my size is, how my hair is, how my voice is. I just have to be me, listen to myself.“
Das ist eine Aussage, die wir 100% unterschreiben. Netta ist einfach eine super Persönlichkeit, der es gelingt auch in auf den ersten Blick vielleicht banal wirkenden Popsongs eine wichtige und starke Aussage zu verpacken. Ob man den Gewinnersong nun persönlich mag oder nicht, sie ist eine würdige Siegerin. Herzlichen Glückwunsch und shalom Jerusalem 2019 – wir freuen uns darauf!
Alle Bilder: Mirjam Baur
Aber werfen wir einen Blick auf das weitere Ergebnis nach der strahlenden Gewinnerin Netta. Die unumstrittene Party-Queen Eleni Foureira erzielte für Zypern mit Platz 2 das beste Ergebnis, welches die Mittelmeerinsel jemals beim ESC erreicht hat. Bei „Fuego“ geht einfach die Sonne auf – oder war es doch das Feuer, das entfacht wird – und uns dazu bringt, den Sommerhit in allen noch so passenden oder unpassenden Situationen vor uns hinzuträllern. Angela Merkel weiß, wovon wir sprechen, aber seht selbst:
https://twitter.com/foureira_eleni/status/997225756433551360
Nur einen Platz dahinter lag etwas überraschend der Österreicher Cesár Sampson mit der souligen Nummer „Nobody But You“.
Was hierzulande jedoch für sehr viel mehr Aufmerksamkeit sorgte als der israelische Sieg: Deutschland war überhaupt nicht letzter geworden. Wie war das möglich? Und das, wo uns doch sowieso niemand Punkte geben würde und dazu noch bei so einem „weinerlichen“ Song! Satz mit x, war wohl nix. Michael Schulte hatte es mit seiner emotionalen Ballade „You Let Me Walk Alone“ geschafft, sowohl bei den Jurys als auch bei den Zuschauern in ganz Europa zu punkten, summa summarum ein toller Platz 4. Vielerorts als „Sensation“ gefeiert, sind wir einfach nur happy, dass sich unsere gute Vorahnung tatsächlich bewahrheitet hat. Der ESC-Fluch ist besiegt, Germany is back in the game. Der vierte Rang mit mehreren Douze Points Wertungen ist zudem auch viel mehr als sich der Künstler selbst erträumt hatte.
Auch beim Sightseeing am Tag nach dem Finale lässt uns der ESC nicht los. Was die Tage vor dem Finale das beinahe minutenweise Aktualisieren der Wettquoten war, ist nun abgelöst durch das Monitoring jedweder Charts-Seiten und was wir dort sehen, gefällt uns sehr gut. Denn Michael Schulte ist ein Künstler, dessen Werdegang wir seit vielen Jahren gespannt mitverfolgen. Umso mehr gönnen wir ihm all den den Zuspruch, den er in den letzten Wochen bekommen hat. Ein Einstieg auf Platz 3 der offiziellen deutschen Charts, wann gab es das zum letzten Mal für einen deutschen ESC Beitrag? Noch während ich diese Zeilen zu Papier bringe, 10 Tage nach dem Finale, rangiert „You Let Me Walk Alone“ in den Top 10 der deutschen iTunes Charts. Dazu kommen unzählige TV-Auftritte und Ehrungen (Land Niedersachsen, Heimatstadt Buxtehude) – beides wohl nicht alltäglich für einen ESC-Viertplatzierten und dafür umso schöner. Besser geht nicht? Oh doch! Man mag staunen, aber die wahren (privaten) Highlights 2018 stehen für Michael Schulte erst im Sommer an. Zunächst heiratet der Sänger im Juni seine Verlobte Katharina – sein bester Kumpel Max Giesinger, der mit ihm gemeinsam Kandidat in der ersten The Voice of Germany Staffel war, ist Trauzeuge. Ende August folgt dann die Geburt des ersten Sohnes der Frischvermählten – ein durchwegs aufregendes Jahr 2018, das hier und da auch noch gespickt ist mit Liveauftritten, unter anderem im Rahmen der Dreamer Tour im November.
Aber genug mit Sensation, zurück zum ESC… Ich könnte an dieser Stelle hier jetzt gut und gerne eine Abhandlung über die erheblichen Diskrepanzen im Abstimmugsverhalten beim Juryvote auf der einen und dem Televote auf der anderen Seite schreiben, belasse es aber bei der Aussage, dass ich dieses Jahr wirklich besonders froh bin, dass das Publikumsvoting so einiges „geradegebogen“ hat, im positiven wie im negativen Sinne. Die Top-Anrufzahlen für unsere Lieblingswikinger aus Dänemark, das Gesangs-Duo aus Italien sowie Popsänger Mélovin aus der Ukraine waren unser Meinung nach vollkommen gerechtfertigt, genauso wie die geringe Begeisterung beim Publikum für 08/15 Schwedenpop (Dafür feiere ich das Publikum und bin fassungslos über die Wertungen so einiger Jurys). So konnten wir uns auch in diesem Jahr einige Songs schön hören (Zypern, Slowenien), aber andere eben bis zum heutigen Tage nicht (Schweden, Norwegen). Wir sind gespannt, ob dieser großen Abweichung in den nächsten Jahren Tribut gezollt wird und das Wertungssystem angepasst wird (Stichwort: Einfluss der Jurys mindern). Die Punktevergabe im Pressezentrum mit all den anderen Pressevertretern live mitzuerleben war jedenefalls extrem nervenaufreibend und hochemotional, hatten wir dazu noch einiges zu feiern dieses Mal.
Was wir außerdem mitnehmen:
1. Diese wunderbare freudselige Eurovision Stimmung nicht nur in den ESC Venues, sondern in der ganzen Stadt. Wie bei einer WM, nur tausend Mal schöner.
2. Fremde Leute, die einen mitten auf der Straße umarmen, weil sie den deutschen Song so lieben und davon berichten, wie sehr sie „You Let Me Walk Alone“ zu Tränen rührt.
3. Der Blick aufs Wasser nach Betreten des Pressezentrum-Areals. Wie schön kann eine Arbeitsumgebung denn bitte sein? Wir konnten uns jedenfalls nicht sattsehen und waren jedes Mal aufs neue völlig hin und weg. „All aboard“ war nicht umsonst das Motto des diesjährigen ESCs!
4. Der wunderschöne Empfang an der deutschen Botschaft/am Goethe Institut in Lissabon mit Michael Schulte und der portugiesischen Fado-Sängerin Mariza.
5. Die Songs! Wir finden: 2018 war ein starker ESC Jahrgang. Vorbei sind die Zeiten, in denen der ESC gleichbedeutend mit Trash pur war. Auch hier setzt sich Qualität durch und wir sind uns sicher: So manch ein Song wird uns noch lange Zeit begleiten.
6. Gastgeber Lissabon mit seinem ganz eigenen Flair, netten und hilfsbereiten Landsleuten, seiner wunderbar verträumten Altstadt, dem Meer direkt vor der Tür und den leckersten Puddingtörtchen ever. #pasteisdenataforlife
Wir sagen: Danke Lissabon! Es war uns ein Fest!
PS: PED (Post Eurovision Depression) is real:
https://twitter.com/bbceurovision/status/995996807275663361
Alle Bilder: Mirjam Baur