Anfang März 2020 trat Mackenzie Scott mit ihrem Projekt Torres in Berlin auf. Zu der Zeit war das Virus bereits in aller Munde, aber niemand wusste so recht, wohin die Reise gehen würde. Kurz darauf schlossen die Schulen, das öffentliche Leben wurde komplett herunterfahren. Als Torres spielte, war es noch eine Frage der Entscheidung, ob man hin gehen sollte oder nicht, es gab nur die Empfehlung, größere Menschenmengen zu meiden. Es fühlte sich irgendwie komisch an, also entschied ich mich damals, Zuhause zu bleiben.
Hätte ich gewusst, dass es für lange Zeit nicht mehr die Möglichkeit geben würde, ein Konzert zu besuchen, hätte ich es mir vielleicht anders überlegt. Um ein paar Wochen ging es zu dem Zeitpunkt, und man fühlte sich gut dabei, tagsüber Selfies im Pyjama zu posten. Hashtag #staythefuckathome. Was uns wirklich bevorstand, ahnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Aber auch für Mackenzie selbst sollte es die letzte Show für eine lange Zeit bleiben, die Möglichkeit, aus ihrer Heimat USA nach Europa zu kommen und Konzerte zu spielen, rückte in weite Ferne. Umso glücklicher wirkt sie an diesem späten Nachmittag, als sie mir im Backstage des Berliner Frannz Clubs auf dem Sofa gegenüber sitzt. Es war ein langer Weg. Ursprünglich sollten die Shows zu ihrem aktuellen Album „Thirstier“ bereits diesen März stattfinden, dann wurden sie noch einmal verschoben. Jetzt ist es endlich soweit.
Mackenzie Scott hat einen langen Atem. Und sie hat keinen Plan B, wie sie mir im Gespräch verrät. Dazu passt es umso mehr, dass sie die Aura einer Langstreckenläuferin umgibt. Manchmal geht sie vor ihren Konzerten in die Eistonne. Sie lädt mich ein, nach der Vorstellung noch einen Joint mit mir zu rauchen. Und mit Smalltalk hat sie erst recht nicht viel am Hut.
Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen. Wie geht es dir?
Mir geht es großartig. Ich liebe es, auf Tour zu sein. Besonders in Deutschland. Die Gastfreundschaft ist unglaublich. Meiner Erfahrung nach sind die Leute in Deutschland alle wahnsinnig nett. Das gilt auch für das Publikum.
Du warst eine der letzten, die in Deutschland auf Tournee war, bevor Corona kam.
Das stimmt, das war ich. Am 11. März habe ich meine letzte Show gespielt. Hier in Berlin. Seitdem bin ich zum ersten Mal wieder in Berlin. Wir waren die letzten, die in der Kantine am Berghain gespielt haben, bevor dort zwei Jahre lang alles zu war.
Ich glaube, wir in Deutschland waren die letzten in Europa, die wieder Konzerte hatten.
Es hat uns alles kaputt gemacht. Man spürt es immer noch an der Energie. Sie ist gut, die Leute haben Spaß. Aber es wird trotzdem wahrscheinlich nie wieder so wie vorher sein. Aber vielleicht muss es das auch nicht . Es ist eine neue Energie. Es fühlt sich ein bisschen psychedelisch an, jetzt wieder in Berlin zu sein (lacht). Ich bin sehr dankbar, dass es nur zweieinhalb Jahre gedauert hat. Es hätte auch länger sein können.
Wie ist es dir in der Zwischenzeit ergangen?
Ich habe mich darauf konzentriert, Dinge zu machen und Zeit mit meiner Familie zu verbringen. Ich habe Kunst gemacht, viel Kunst gesehen, habe Musik gehört und Bücher gelesen. Habe viel gegessen und viel Wein getrunken (lacht). Habe mich auf mein Innenleben konzentriert. Es war okay. Aber ich konnte es trotzdem nicht erwarten, wieder auf Tour zu gehen.
Wenn ich jetzt mit Künstler*innen spreche, höre ich oft, dass nach dem ersten Schock die meisten auch etwas Gutes aus dieser Zeit mitgenommen haben.
Ja. Das fühle ich auch so. Ich habe das Gefühl, dass jeder, den ich kenne, irgendwie eine transformative Erfahrung hinter sich hat, die einen mehr, die anderen weniger. Aber erlebt hat es jeder. Die meisten sagen, dass sie sich stärker denn je auf ihr Innenleben konzentriert haben. Jeder hat es eine zeitlang genossen, am gleichen Ort zu sein und nirgendwo hin zu müssen. Aber dann, als alle wieder bereit waren, sich zurück hinaus in die Welt zu wagen, war die Frustration riesig, es nicht zu können. Das war die Energie, die alles beherrscht hat, vor allem im letzten Winter.
Aber es stimmt, die Zeit, in der man sich voll auf sich selbst konzentrieren musste, war irgendwie auch wertvoll.
Ich habe zum Beispiel angefangen, eine Therapie zu machen. Ich habe angefangen, ein paar Dinge aufzuarbeiten, die ich mich vielleicht nicht getraut hätte anzugehen, wenn ich nicht irgendwie dazu gezwungen gewesen wäre. Ich wäre auch gar nicht dazu gekommen, weil ich ständig in Bewegung war. Es ist sehr einfach, Dingen aus dem Weg zu gehen, wenn man die ganze Zeit unterwegs ist. Jeden Abend in einer anderen Stadt zu sein und Musik zu spielen ist ein sehr leichter Weg, die wahren Probleme zu vermeiden, zu vermeiden, sich seinen Traumata und seiner mentalen Gesundheit zu stellen. Aber offensichtlich liebe ich genau das (lacht). Ich werde nie aufhören, deshalb bin ich wieder hier. Aber ich glaube, ich gehe es diesmal mental etwas gesünder an. Es geht mir wirklich viel besser als früher.
Genießt du es mehr?
Ja! Ich bin sehr präsent. Ich achte viel mehr auf die Städte, in denen ich bin, weil ich diesmal weiß dass ich nicht sagen kann, wann ich das nächste Mal wieder dort bin. Es könnten drei Jahre sein, fünf oder zehn. Freiheit hat eine ganz andere Bedeutung bekommen. Wir haben immer alles gemacht ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wann wir es das nächste Mal machen können. Also achte ich genau darauf wo ich bin. Und wenn es nur so etwas ist, wie das beste lokale Essen zu probieren. Ich versuche mich daran zu erinnern, wie die Leute waren. Jedes Detail ist mir heute wichtiger als früher.
Ich finde es spannend, dass dein Album so „groß“ klingt. Wenn man bedenkt, dass es in einer Zeit mit so vielen Einschränkungen entstanden ist.
Das war genau das, was ich wollte. Dass die Musik so groß wie möglich klingt. Damit ich mich nicht so gefangen fühle (lacht). Und ich wollte anderen Menschen helfen, sich auch nicht so gefangen zu fühlen, von dem, was um uns herum passiert ist. Gefangen vom Verderben (lacht). Von schrecklichen Gedanken und Angststörungen. Ich wollte selbst voller Hoffnung sein und habe gehofft, dass mein neues Album anderen helfen könnte, sich auch so zu fühlen.
Es gibt nicht so viele Frauen, die so klingen wie du. Die groß klingende Rockmusik machen. Musik, die groß klingt, lässt ja auch automatisch das Gefühl von großen Räumen entstehen.
Genau das war die Idee. Wenn ich etwas mache, das so klingt, dann kann ich damit vielleicht ein Theater oder ein Stadion füllen. Oder einfach einen größeren Club. Idealerweise bringt es mich da hin. Es passiert nie über Nacht. Ich hoffe einfach, dass „Thirstier“ irgendwann ein Eigenleben entwickeln wird.
Ich finde das eine coole Herangehensweise.
Ja, ich mache den Sound für die Venues, in denen ich spielen will. Außerdem möchte ich einfach das tun, was ich tun möchte, genauso wie ich es tun möchte, genau dann, wann ich es tun möchte. Ich möchte nicht darüber nachdenken, was vor mir kam, was von mir erwartet wird, was irgendjemand von mir will.
Warst du als Künstlerin schon immer in der Position, dass du so selbstbestimmt arbeiten konntest?
Ich habe mich schon immer sehr auf mein Bauchgefühl verlassen. Trotzdem bin ich natürlich nicht immun gegen Druck von innen und außen, vor allem was die Business-Seite betrifft. Ich muss auch an das Geschäft denken, aber ich versuche, dass es nicht die Kunst beeinflusst. Ich versuche, das zu machen was ich will und dann hoffentlich die Leute davon zu überzeugen, daran zu glauben. Zum Glück arbeite ich mit einem Label, das mich sehr unterstützt und das nicht versucht, seine Künstler*innen zu kontrollieren. Man muss mit den richtigen Leuten zusammenarbeiten.
Ist es denn immer noch so, dass Künstler*innen von ihren Labels kontrolliert werden? Oder ist das so ein Klischee, das in den Siebzigern, Achtzigern, Neunzigern verhaftet ist?
Oh, jedes Klischee, das du jemals über die Musikindustrie gehört hast, ist immer noch wahr. Es ist ein schmutziges Geschäft. Aber, es gibt Juwelen, die muss man finden. Die Leute, mit denen ich arbeite, sind solche Juwelen. Ich bin von Leuten in der Musikindustrie verbrannt worden, also bin ich weiter gezogen und habe mit Leuten gearbeitet, die mir das nicht angetan haben. Aber ja. Viele, viele Künstler*innen bekommen gesagt, was sie tun sollen, was sie veröffentlichen sollen und was nicht. Ganz sicher.
Du klingst sehr frei auf diesem Album.
Ernsthaft, ich liebe das, was ich tue. Ich bin glücklicher mit dem was ich tue als je zuvor. Ich bin viel selbstbewusster als früher. Für jeden Rückschlag gibt es eine hoffnungsvolle Gegenbewegung. Ich habe keine andere Wahl! Ich kann nicht aufgeben.
Hast du in dieser Zeit je darüber nachgedacht, was du tun würdest, wenn du nicht mehr Musik machen könntest?
Nein! Nein! Ich habe eine ziemliche Wahrnehmungsstörung (lacht). Ich denke nicht über Alternativen nach, weil es für mich keine gibt. Ich würde unglücklich sterben, wenn ich das hier nicht durchziehen würde, was auch immer dafür nötig ist. Selbst wenn die Möglichkeit, Konzerte zu spielen, nicht zurück gekommen wäre, ich hätte sämtliche drastische Maßnahmen in Erwähnung gezogen, damit es irgendwie funktioniert. Ich liebe es einfach aufzutreten. Ich werde nie aufhören Musik zu machen und ich werde nie aufhören, sie zu teilen. Es wird immer Leute geben, die durchhalten, egal in welcher Kunstform, egal in welcher Industrie. Nicht zu ihnen zu gehören, wäre schrecklich für mich. Ich weiß, wenn irgendjemand es kann, dann ich.
Eine meiner Lieblingszeilen auf deinem Album ist ja: „Everybody wants to go to heaven, but nobody wants to die to get there.“
Glaubst du, dass das stimmt?
Ich habe lange drüber nachgedacht. Ich denke ja. Glaubst du, dass man den Himmel auf Erden finden kann? Dass man so glücklich sein kann?
Ja. Das ist die Idee dahinter. Mann, wenn die Menschen mit der Erde, der Natur und den Tieren, mit allen Kreaturen so interagieren würden, wie man mit ihnen interagieren sollte, dann könnten wir alle gemeinsam große Freude auf dieser Erde finden. Es ist ein großartiger Planet. Wenn du hier nicht glücklich sein kannst, dann kannst du nicht im Himmel glücklich sein, wo auch immer er sein sollte. Das glaube ich. Wenn du diese Freude nicht auf Erden finden kannst, dann macht es keinen Sinn, an den Himmel zu glauben.
Und schon sind wir wieder dabei, wie wichtig es ist im Moment zu leben. Und mit sich selbst zufrieden zu sein. Wenn du das nicht bist, dann bist du nirgendwo glücklich.
Es ist dieses tragische Sylvia Plath Konzept der Glasglocke. Wo auch immer du hin gehst, sitzt du unter der Glasglocke und atmest deine eigene, stinkende Luft. Wenn du keine Freude finden kannst dort, wo auch immer du bist, was für eine Art von Freude auch immer, dann ist das ein großes Problem.
Ich glaube auch fest, dass es mit dem Alter leichter werden kann.
Oh ja. Du könntest mir keine Milliarde Dollar bezahlen, um noch einmal 20 zu sein (lacht). Ich glaube tatsächlich, dass ich zum ersten Mal in meinen Dreißigern wahre Freude empfunden habe. Und ich bin erst 31 (lacht).
Foto © Shervin Lainez