Bevor irgend etwas passiert, tappt man erst einmal im Dunkeln. Und zwar buchstäblich. Das Konzert von Tokio Hotel, das wir an diesem Abend vorhaben zu besuchen, findet in einem abgelegenen Gebäudekomplex in der Nähe der S-Bahn Station Wilhelmsruh statt. Und um dort hin zu kommen, so sagt es zumindest die Kartenfunktion auf dem Smartphone, führt der kürzeste Weg direkt an der S-Bahn entlang. Ein unbefestigter, komplett unbeleuchteter Weg ist das, den wir uns aneinander geklammert entlang schlängeln. Irgendwann öffnet sich rechterhand eine Tür im Maschendrahtzaun, dahinter Licht und Leben. Einmal mutig abgebogen und wir stellen fest, wir sind richtig. Die Menschenschlange, die sich in dieser eher verlassenen Gegend vor einem der Gebäude gebildet hat, scheint das gleiche Ziel zu haben wie wir.
Es ist wohl nicht mehr so, dass Tokio Hotel hierzulande die großen Arenen ausverkaufen. Die Locations, die die Jungs (inzwischen muss man schon fast Herren sagen), sich für ihre Konzerte aussuchen, wie zum Beispiel 2014 der Heimathafen Neukölln oder dieses Jahr, im ersten Abschnitt der aktuellen Dream Machine Tour, das Huxleys, sind aber immer gut gefüllt. Und was das Faszinierendste an diesen Abenden ist: es gibt um einen herum gefühlt kaum eine Sprache, die nicht gesprochen wird. Russisch hört man zum Beispiel viel. Ich treffe eine Freundin, die extra aus Schweden gekommen ist, gemeinsam mit einem Freund, der aus den Niederlanden kommt. Auch in Finnland habe ich eine Freundin, die großer Tokio Hotel Fan ist. Es handelt sich bei dieser Band also nach wie vor um ein internationales Phänomen.
Dieser Abend ist der erste der Dream Machine World Tour 2017/2018. Welt bedeutet in diesem Fall Luxemburg, Niederlande, Italien, Frankreich, USA und Kanada. Es ist eine Art öffentliche Probe, zu der neben den geladenen Friends and Family noch eine Reihe Fans die Möglichkeit hatten, Tickets zu erwerben. In einer der Probehallen des Veranstaltungstechnikers Black Box Music kommen sie in den Genuss, die Show der Band in vollem Ausmaß, aber im lustig intimen Rahmen zu erleben. Das ist wirklich ganz erstaunlich entspannt. Es wird gekreischt, getanzt und gesungen, aber man hat viel Platz sich zu bewegen und quasi von jedem Punkt im Raum einen ausgezeichneten Blick auf die Bühne.
Und um es noch einmal zu sagen: es ist wirklich, wirklich schade, dass Tokio Hotel hierzulande, vor allem als Liveband, so wenig geschätzt werden. Kaum einer Band wünscht man so sehr, dass sie es irgendwann schafft, ihr altes Image und die damit verbundenen Vorurteile abzulegen. Tokio Hotel sind musikalisch extrem versiert, sie kreieren als Band einen vollen, tanzbaren Popsound, sie fahren ein wirklich beeindruckendes Bühnen-Set Up mit dazugehöriger Liveshow auf und kaum ein Frontmann wechselt heutzutage noch so oft die herrlich exzentrischen Kostüme wie Bill Kaulitz. Eine in diversen Farben leuchtende zweite Ebene, die ein wenig an ein Gasometer erinnert und noch mehr an Daft Punk, Seifenblasen, Konfetti – alles da! Außerdem stellt man irgendwann, selbst als Nicht-Hardcore-Fan fest, dass man so ziemlich jeden Song mitsingen kann. Und wenn Tom Kaulitz auf einer seiner diversen Soundstationen rum drückt und trommelt, dann wackelt schlichtweg die Hütte. Überhaupt stehen sich alle vier Bandmitglieder in ihrem musikalischen Können gegenseitig in nichts nach.
Wir waren an diesem Abend zu viert, vier Menschen aus vier Städten und drei Ländern. Jeder von uns mit einem anderen Erfahrungswert, was Tokio Hotel betrifft: Jemand, der die Band zuletzt 2010 live gesehen hatte, ich, die ich sie einmal, aber noch nicht auf der aktuellen Tour erlebt habe, jemand für den es das erste Mal war und jemand, der schon zahlreiche Tokio Hotel Shows auf dem Fanbuckel hat. Trotz unserer unterschiedlichen Erfahrungswerte waren wir uns am Ende einig: es war ein super Abend. Man würde sich wirklich wünschen, dass die Welt endlich anfängt, sich beim Phänomen Tokio Hotel einfach auf die Musik zu konzentrieren. Das gilt im übrigen aber auch für die Band selbst: das Geschnatter über Groupie-Sex im Fernsehen sollte langsam durch sein, auch Bill Kaulitz’ Aufrufe auf der Bühne, man könne zur Musik von Tokio Hotel gut Drogen nehmen, sind nur semi bis gar nicht cool. Das noch weglassen, dann klappt es bestimmt bald mit der Wahrnehmung als versierte, sich leidenschaftlich dem eigenen Wandel hingebende, ernstzunehmende Band von internationalem Format.
War dabei: Gabi Rudolph