Tocotronic im Interview: „Wenn es nur Fun wäre, dann wäre es nur ein Hobby“

In 25 Jahren Bandgeschichte kriegt man schon eine Menge hin. Tocotronic konnten hinter so ziemlich alles ein Häkchen setzen. Im Traum haben sie sogar schon mal mit Mark E. Smith Pizza gegessen. Und in der Realität konnten sie locker dem Label Hamburger Schule entfliehen. Was jetzt noch fehlte, war ein liebevoller Rückblick auf das eigene Aufwachsen. „Die Unendlichkeit“ ist schönste Nostalgie. 16 kleine Geschichten mit enormer Wirkung.

Im Interview erzählen Dirk von Lowtzow und Jan Müller über die Weiterentwicklung ihrer Freundschaft, über ihre beständigen Ängste sowie über die richtige Mischung aus Nähe und Distanz.

Ist eurer Meinung nach das Leben lang oder kurz?

Jan: Mir ist das Leben schon seit langer Zeit zu kurz. (lacht) Gerade im Bezug auf das neue Album haben wir viel über dieses Thema geredet. Für mein Empfinden vergeht alles zu schnell und dabei gibt es noch so einiges zu entdecken auf der Welt.

Dirk: Mir geht es da anders. Das Leben kommt mir sehr lang vor. Ich wundere mich ständig darüber, wie langsam die Zeit vergeht.

Wobei laut Roger Willemsen Zeit etwas sehr Dehnbares ist, das man sich bewusst zu Eigen machen kann. Ich frage mich, wie das gehen soll?

Dirk: Für mich ist es durch das Songschreiben möglich. Das ist reine Gegenwart. Was man da formuliert, ist das, was man genau so in dem Moment empfindet. Ich denke, das ist auch ein Grund, warum ich so gerne Songs schreibe. Ich kann mich dadurch im wahrsten Sinne des Wortes vergegenwärtigen.

„Die Unendlichkeit“ ist ein sehr persönliches Album. Doch bringt diese Art des Schreibens nicht auch mit sich, dass man sich ein Stück weit fiktionalisiert?

Dirk: Du meinst, dass man sich dadurch zu einem gewissen Grad neu erschafft, sodass man letztlich auch eine fiktionale Person sein könnte? Ich denke, dieses Spannungsfeld zwischen Nähe und Distanz ist entscheidend beim autobiografischen Schreiben. Nur so ist es möglich, sich zu öffnen und gleichzeitig den Schritt zurück zu treten, um einen Blick auf das große Ganze zu erhaschen. Es ist aber schon ein Eiertanz, den man vollführen muss. Wenn man einfach nur die nächstmögliche Nähe zum Hörer aufbauen möchte, wirkt das schnell belästigend. Neudeutsch würde man jetzt sagen: too much information. Es braucht eben die Distanz, damit sich auch andere in den Texten wiederfinden können.

Durch die neue Perspektive, die man auf sich selbst beim Schreiben gewinnt, kann man sicher auch rückwirkend nachsichtiger mit sich sein, oder?

Dirk: Man erfährt beim Schreiben natürlich einiges über sich selbst. Aber das war nicht der Ansatz. Das Album sollte mehr sein als eine Ansammlung von Anekdoten. Eine Dramaturgie war wichtig. Genauso wie ein Lektorat, weil man bei der eigenen Biografie oft zur Verklärung oder Geschwätzigkeit neigt. Ich brauchte jemanden, der mich auf dem Weg begleitet und Jan hat das fürsorglich getan. Für ihn war es bestimmt nicht immer einfach mit mir auf diese Weise konfrontiert zu sein.

Jan: Es war auf jeden Fall eine intensive Zeit. Wir haben viel über unsere Biografien gesprochen, welche Parallelen und Unterschiede es gibt. Obwohl wir uns schon so lange kennen, hat sich unsere Freundschaft durch diese Zusammenarbeit neu definiert. Vorher war es nie so wichtig, dass wir uns viel Persönliches sagen. Nun haben wir eine ganz neue Ebene.

Gab es einen Moment in der Vergangenheit, in dem ihr gedacht habt: So muss sich Erwachsensein anfühlen?

Jan: Es gibt Markierungspunkte. Der Auszug von Zuhause, Todesfälle in der Familie und eigene Kinder. Das ist noch mal ein ganz krasser Umbruch. Als Rockband sind wir jedoch verpflichtet, das totale Erwachsensein zu vermeiden.

Dirk: Erwachsensein? Ich weiß nicht, was das ist. Ist das eine Wertung? Heißt das: Ab jetzt ist man vernünftig? War man vorher unvernünftig? Ich habe mir diese Frage nie gestellt. Es ist kein Thema für mich. Vielleicht bin ich ja nie erwachsen geworden. Oder ich war es schon mit fünf Jahren.

Unsicherheiten und Ängste zu überwinden, macht ein Stück weit erwachsen.

Dirk: Ich fühle mich nicht selten unsicher, ausgeliefert. Die Gruppe macht mich stark, klar. Wir sind eine Gang. Das bringt Geborgenheit mit sich. Aber ich habe auch Angst. Angst auf die Bühne zu gehen, Angst, etwas falsch zu machen. Angst, dem nicht zu entsprechen, was ich mir vorgenommen habe. Oder Angst, dem nicht zu genügen, was andere in mir sehen.

Also so richtig fette Angst?

Dirk: Ja, die geht tiefer als nur Lampenfieber. Die Angst vorm Versagen ist oft da, aber sie treibt mich auch an. Schon allein, weil ich dadurch die Bestätigung von außen brauche und sie mir immer wieder holen will.

Jan: Ich finde, da herrscht so ein Ungleichgewicht. Zum einen hat man dieses überbordende Selbstbewusstsein, mit dem man davon ausgeht, dass man dieser Welt mit Platten und Konzerten etwas Wichtiges mitzuteilen hat. Zum anderen gibt es diese extreme Verletzlichkeit. Aber das ist wohl bei aller beachtenswerter Kunst so. Wenn sich einer nur geil findet, ist die Kunst meist nicht so doll.

Dennoch klingt dieses Ungleichgewicht super anstrengend. Wie ein Kampf.

Dirk: Nur man fühlt sich nie so gut wie nach einem Konzert. Es ist befriedigend. Auch wenn man glaubt, dass ein Text gelungen ist. Dann trägt die Freude, etwas aus sich heraus erschaffen zu haben, über Wochen. Dieses Gefühl gehört nur einem selbst. Aber sicher benötigen ein Song und auch ein ganzes Album viel Anstrengung und Disziplin. Wenn es nur Fun wäre, dann wäre es nur ein Hobby.

Interview und Foto: Hella Wittenberg

www.tocotronic.de