Wir waren in Budapest beim Sziget Festival 2016 – und sind inzwischen erholt genug euch zu erzählen, was wir da erlebt haben.
Am zweiten Tag unseres Trips nach Budapest fällt es uns wie Schuppen von den Augen: Das ungarische Wort Sziget, nach dem das Festival, das zu besuchen wir hier sind, benannt ist, bedeutet im deutschen Insel. Diese fulminante Erkenntnis ereilt uns, als wir bei dem Versuch, von unserem Apartment aus zu Fuß zum Festival zu laufen, beinahe auf der falschen Sziget (Insel!) landen. Direkt was gelernt!
Tatsächlich hätten wir diese Weisheit schon viel eher erlangen können. Das Sziget Festival findet nämlich seit 1993 jährlich eine Woche lang auf einer Donauinsel mitten im Herzen von Budapest statt. Zum Einlass führt eine Brücke über die Donau auf die Insel (!), das Programm ist in Form eines Reisepasses gedruckt. Viele reisen mit Gepäck an, Rollkoffer, Reisetaschen und Proviant auf Rollwägelchen bahnen sich mit ihren Besitzern den Weg zum Gelände. Das Sziget Festival propagiert sich selbst als die „Island of Freedom“ (Insel!). Eine Woche lang Musik, Kultur, Camping, Party, Workshops, Vorträge – das Programm ist für ein europäisches Festival nahezu beispiellos umfangreich. Ziel ist es, eine Woche lang eine Art Parallelgesellschaft zu errichten, innerhalb der nahezu alles möglich scheint. Tatsächlich herrscht auf dem Sziget Festival mehr Freiheit, als man es von anderen Festivals her gewöhnt ist. Das Campen ist nämlich nicht nur in speziellen Bereichen möglich, sondern nahezu überall auf dem Gelände. Gefühlt auf jedem Flecken Rasen, an jedem Wegrand reihen sich die Zelte, dicht an dicht, wenn man es möchte ist die bevorzugte Bühne vom Schlafplatz aus per Katzensprung zu erreichen. Wer es lieber etwas ruhiger mag, kann aber auf den eingegrenzten VIP Campingplatz zurückgreifen. Oder es sich wie wir in einem Apartment in der Innenstadt schnuckelig machen, von dort aus ist es zum Sziget nämlich auch nicht weit. Tatsächlich strahlen die Campingflächen auf dem Sziget weniger Gemütlichkeit als Survival Camp Atmosphäre aus. Wobei die Veranstalter sich sichtlich Mühe geben, die Bereiche extrem liebevoll zu gestalten. Man kann nicht nur unter Bäumen, sondern unter Discokugeln, Lichterketten und Lampions zelten. Eine junge Dame, die inzwischen für den Veranstalter arbeitet, früher aber selbst viele Jahre als Besucherin auf dem Sziget gecampt hat, fasst für uns lachend zusammen: „It’s a challenge!“ Wie findet man in dieser uniformen Zeltstadt seinen Schlafplatz wieder? Bekommt man nicht nachts regelmäßig Besuch von verwirrten/betrunkenen Menschen, die vor dem gleichen Problem stehen? Fragen, die wir es uns in diesem Jahr nicht zur Aufgabe gemacht haben zu beantworten. Wir sind da, um uns voll auf das kulturelle „Rahmenprogramm“ zu konzentrieren.
Und was für ein Programm das ist! Mehr als 1000 Punkte umfasst es und geht wie gesagt über das Maß eines „normalen“ Musikfestivals weit hinaus. Es gibt ein „Theatre and Dance Tent“, den „Cirque du Sziget“, in dem es Artistik, Revuen und Kleinkunst zu sehen gibt, ein „Chess Tent“ in dem gefühlt rund um die Uhr Schach gespielt wird und das „Wedding Tent“, in dem man tatsächlich heiraten kann – aber ohne böses Erwachen, das Gelöbnis ist nur für die Dauer des Festivals gültig. Allem voran aber natürlich Musik, Musik, Musik! Und auch hier ist die Bandbreite schier unerschöpflich. Auf der Main Stage klatschen sich natürlich die großen, internationalen Headliner ab, ebenso auf der nebenan gelegenen Zeltbühne. Aber auch auf der Europe Stage, auf der es Newcomer und Topacts aus ganz Europa zu sehen gibt sowie auf der World Music Stage gibt es viele extrem unterschiedliche musikalische Perlen zu entdecken. Davon abgesehen rumst und wumst die Electromukke munter an allen Ecken und hinter Bäumen hervor. Überall wird getanzt, die Stimmung ist ausgelassen aber zumindest unserem Erleben nach selten bis gar nicht aggressiv „drüber“. Die Freiheit ist auch auf dem Sziget nicht grenzenlos und man hat das Gefühl, das bunt gemischte Publikum ist zusammen gekommen um in ihrem Geist zu feiern und nicht um sich schamlos gehen zu lassen.
Es gibt unendlich viel zu entdecken und natürlich ist uns bewusst, dass es nicht die großen Headliner sind, die das Festival ausmachen, die meisten bekommt man auch bei anderen Gelegenheiten zu sehen. Aber würden wir uns deshalb Die Antwoord entgehen lassen? Natürlich nicht! Auch wenn wir dabei nass bis auf den Schlüppi werden, denn am ersten Abend gehen Sintflut artige Regenfälle über dem Sziget nieder, das sonst um diese Jahreszeit Temperaturen von um die 40 Grad gewöhnt ist. Weder uns noch den Bands auf der Bühne verhagelt der Regen jedoch die Laune. Skunk Anansie Frontfrau Skin hält er nicht davon ab, sich immer und immer wieder in die Menge zu stürzen und auch Die Antwoord MC Ninja badet ausgiebig in Wolkenguss und Publikum.
Man kann sich tagelang wunderbar auf dem Festival treiben lassen und hat trotzdem noch genug Zeit, etwas von der wunderschönen Stadt Budapest zu sehen. Dank der Agentur Factory 92 (deren Einladung zum Sziget wir gefolgt sind) und dem ungarischen Tourismusamt werden wir mit einer Fahrradtour durch Budapest verwöhnt, bei der wir etwas ganz essentielles gelernt haben: So eine Tour wird automatisch der Hit, wenn es an jedem Stopp etwas zu trinken gibt. Rotwein, Weißwein, den traditionellen Kräuterschnaps Unicum (solo und im super leckeren Cocktail) und zum Abschluss Champagner auf dem Riva Boot, das uns luxuriös zum Festival Gelände schippert. Mit einem herrlich locker sitzenden Schwips begehen wir den Abend mit Goran Bregovic und seiner Wedding and Funeral Band, einen perfekteren Höhepunkt kann so ein Tag kaum haben. Ein aus diversen Nationen zusammen gepflücktes Publikum singt gemeinsam kroatische Lieder, schwenkt ungarische Fahnen und lässt sich in Pikachu Kostümen über die Menge tragen. Goran Bregovic, eines der Urgesteine der Balkan Musik Szene, sieht mit 66 Jahren in seinem glänzenden, weißen Anzug immer noch ganz schön lässig aus, wie er da auf seinem Stühlchen sitzt und Menge und Orchester gleichermaßen per Zeigefinger antreibt. Zum Schluss gibt es noch einem Heiratsantrag, der vom Meister selber mit Küsschen abgesegnet wird. Er wünscht den „jungen Leuten“ alles Glück der Welt und predigt über die völkervereinende Macht der Musik. Man hat in diesem Moment das Gefühl, dass er damit ganz schön recht hat.
Auch wenn wir nicht die komplette Woche bleiben konnten, haben wir doch einiges erlebt. Wir haben Rihanna gesehen (die gesamten 30 Minuten, die sie während ihres einstündigen Sets gefühlt auf der Bühne war), waren dabei wie Kodaline ihr Publikum bis in die letzten Reihen verzaubert haben, haben mit Jake Bugg und Skunk Anansie geplaudert und die gefühlt größten transylvanischen Grillwürste der Welt verspeist. Außerdem ist es einfach ein besonderes Gefühl, ein Festival in einem anderen Land zu erleben. Das Publikum beim Sziget ist international, auch mal laut, krachig und nervig wie man es nunmal von Festivals gewohnt ist, aber insgesamt (trotz des ausgiebigen Konsums von Longdrinks aus Kinderplastikeimern) für so eine Großveranstaltung erstaunlich friedlich. Ein tägliches Highlight der ausgelassenen Sorte war deshalb die jeweils vor dem ersten Hauptact des Abends stattfindende Party vor der Hauptbühne. Da wurden gemeinsam Flaggen und Pom Poms geschwenkt oder Holy Farben in die Luft geworfen. Und dazu immer der Geist der Freiheit und Weltoffenheit gepredigt, denn das Sziget positioniert sich ganz klar gegen den in Ungarn aktuell stattfindenden Rechtsdruck. Wer sein Zelt nicht mehr mit nach Hause nehmen möchte, kann es mit einem Aufkleber kennzeichnen und so für Flüchtlinge spenden.
Aber natürlich überwiegt bei so einem bombastischen Programm am Ende das Gefühl, noch lange nicht genug gesehen zu haben. Dagegen hilft nur eins – wiederkommen! Beim nächsten Mal heiraten wir auch, versprochen.
Waren dabei: Gabi Rudolph & Kate Rock
Fotos (c) Rockstar Photographers