Während ich diese Worte schreibe, bewegen sich meine Finger nur beschwerlich über die Tastatur. Mein Zustand ist weder als mitgenommen, müde oder geschafft zu erklären. In mich ist der Berlin Festival-Blues gekrochen.
Die Regentropfen erreichen die Fensterscheiben in meinem Wohnzimmer in rhythmischer Belanglosigkeit und Sinead O’Connor säuselt mir bereits zum zweiten Mal „Nothing Compares To You“ entgegen. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Nun hat die Zeit wieder an Bedeutung gewonnen. Das Berlin Festival ist vorbei. Der Sommer auch. Schnell ließ sich der Herbst ausmachen. Denn wenn ich in der Bahn die Augen geschlossen halte, höre ich die Menschen ihren Husten mit den Händen dämpfen. Vor kurzem ließ ich noch meine nackten Arme von der Sonne ummanteln. Es war ein perfekter Sommer auf Beton. Mit Björk, Blur und mehr als 20.000 tanzenden Menschen.
Der Startschuss ertönte für mich in Form von NYPC. Als ich kurz vor ihrem Konzert auf Tahita Bulmer traf, entwickelte sich sogleich ein freundschaftliches Gefühl. Wir unterbrachen einander beim Auflisten der Bands, die wir live auf keinen Fall verpassen wollten und lachten darüber, dass Andy auch zwei Minuten vor dem Auftritt noch nervös planend von A nach B stolperte. Tahita erschien mir als die Art von Freundin, mit der man Kakao im Pyjama trinken kann. Doch als die Londoner dann im Hangar Vier ihren reduzierten New Wave-Sound den Leuten entgegen dreschten, erinnerte kaum noch etwas an meine Fantasie. Wie Tahita in unvermittelter Tomboy-Manier „I can give you what you want“ dem Publikum herüberpöbelte, ließ in ihr etwas chefiges aufblitzen. Kein Zuspätkommen geduldet. Sie wusste genau, wie sie mit uns In-den-Tag-Hineinlebenden umgehen musste. Aber so sehr ich auch ausschweifend von links nach rechts tanzte – der Sound wollte es einfach nicht gut mit ihnen meinen und so wechselte ich, bereits zum ersten Mal an diesem Wochenende emotional aufgewühlt, meinen Standort.
The Sounds hatten an diesem Freitagabend des 6. Septembers die besseren Karten. Als ich über das weitläufige Gelände des Tempelhofer Flughafens der Mainstage entgegen lief, ließ sich schon aus der Ferne ein Gebräu aus Zurufen von Maja Ivarrson und dem Publikum ausmachen. Ein monströses Banner erklärte zudem, um welche Band es sich handelte, dessen Sängerin trotz züchtigem Sekretärinnen-Look ständig um sich spuckte. Ja, sie spuckte, als müsse sie auf diese Weise ihren Platz verteidigen. „We’re not living in America“. Einige begannen zu buhen. Mochte es daran liegen, dass die hinteren Reihen nur wenig von den Stretch-Übungen à la Eric Prydz’ „Call On Me“ mitsamt Schlüpfer-Blitzer hatten. Pietätvoll ließ ich meine Kamera ruhen. Dagegen hätte Conor O’Brien ein bisschen mehr Offenheit gut getan. Wo sich auf dem Villagers-Album „{Awayland}“ Welten auftun, erwies es sich live und mit Sonnenbrille deutlich zugeknöpfter. Umso irritierender stellte sich die lyrische wie klangliche Zugänglichkeit O’Briens dar. Eine Mixtur, die nur schwerlich wieder aus dem Kopf zu bekommen ist.
Doch dann eröffneten MIA. ihr Set. Zunächst mit Alexandre Desplats „The Heroic Weather-Conditions of the Universe, Part 7: After The Storm“ aus dem Wes Anderson-Film „Moonrise Kingdom“. Die Harfen, Klarinetten und Hörner bauten sich auf. Dann stand plötzlich Mieze mit wehendem Umhang, gespreizten Zeigefingern und einem so großflächigen Lächeln vor mir, als käme sie geradewegs aus dem Wellness- und Spa-Bereich des Festivals. Oh Mieze. Vor elf Jahren sah ich dich noch mit Absperrband im Potsdamer Waschhaus wedeln. Nun bist du in Strass und sogar ein wenig Kunstfell gehüllt. In der folgenden Stunde wurde auf Stelzen performt, Zirkus gespielt, Verrückte verrückt gemacht und schließlich einem jeden mit „Hungriges Herz“ ein Kloß im Hals verpasst. Während Get Well Soon und Pet Shop Boys schwankte ich wie durch Nebelschwaden. Versuchte Beat, Bass und Lied zu atmen, zu verdauen.
Erst bei Blur wurde ich wieder ganz klar. Nicht zuletzt weil ich als Fotografin im Bühnengraben eine derjenigen Personen war, der es galt, Damon Albarn das Leben schwer zu machen. „Girls & Boys“ war das Stück, welches als Opener die vom ersten Tag langsam müde gewordenen Knochen wieder lockern sollte. Albarn nahm währenddessen die Bühne maß, sprang wie ein 15-jähriger auf und ab und bewässerte eine Vielzahl der Fotografen mithilfe seines nicht enden wollenden Trinkflaschenvorrats – ganz so als wären wir Pflanzen, die kurz vor dem Vertrocknen stünden. Aber auch nachdem ich mich ins Trockene retten konnte, spürte ich noch immer dieses anziehende Charisma, welches von Damon Albarn ausging. „Out of Time“, „Parklife“ und zu guter Letzt „Song 2“: sie spielten Hit um Hit, so dass auch Neulinge das Blur-Universum leicht zu fassen bekommen konnten. Dabei forderten sie Aufmerksamkeit ohne Rückhalt. Ich gab sie ihnen.
Als ich mich am Samstagnachmittag wieder auf dem Weg zum Berlin Festival begab, streikte der Fahrkartenautomat an der U-Bahnstation. Fast so als wollte er anzeigen, dass etwas nicht stimmte. Die Stunden schienen schneller verrinnen zu wollen. Die Zeit im Paradies war bald gezählt. Is Tropical im Hangar Zwei setzten sogleich auf das Zersägen des Wohlklangs, auf ernste Gesichter statt der Darbietung wohliger Wonne. Den Stadionrock bekam man im Gegensatz dazu auf der Hauptbühne serviert. Die White Lies spielten Stücke wie „To Lose My Life“ oder „E.S.T.“ entschleunigter. Feierlicher. Wir hätten uns wohl an die Hände nehmen und eine ewige Menschenkette bilden müssen. Doch Sänger Harry McVeigh konnte uns nur zum beständigen Mit-den-Händen-über-dem-Kopf-klatschen motivieren. Auch Casper wirkte ganz so als würde er sich um die Fitness des Publikums sorgen. Klatschen, klatschen und Mittelfinger hoch. In der Abendsonne musste ich mittlerweile meine Augen zusammenkneifen und meine Haare klebten ungnädig durch Hitze und Sportanleihen an meinem Gesicht. Ich fühlte mich gealtert.
Aber dann kam endlich der Moment der Königin dieser Nacht. Ihr Name umgab stets ein Raunen. Ein Unglaube. Tatsächlich stand um 21 Uhr Björk vor Tausenden großer Augenpaare. Ein 14-köpfiger Frauenchor sowie drei Leinwände umrahmten die Isländerin, die nicht nur durch ihr neonfarbenes Kleid immer ein bisschen mehr zu leuchten schien. Mit Liedern wie „Crystalline“, „Hidden Place“ oder auch „Army of Me“ blühte sie weiter und weiter auf. Und wenn sie auch meist nur mit einem verschüchterten ‚Danke’ dem ihr entgegengebrachten Tosen antwortete, so klang dies doch mindestens genauso zuckersüß wie die Worte „I’ll Kill Her“ aus dem Munde von SoKo. Küssen wollte man sie! Aber Björk blieb während der gesamten, anderthalbstündigen Show eingeigelt. Der Blick auf ihr Gesicht war verschleiert und vom Fotografieren sollte das Publikum ebenfalls absehen. Vielmehr sollten wir alle ein Teil ihrer Performance werden. Solch eine Ansage von einer Frau, die so offensichtlich auf Distanz besteht und gleichzeitig so unter die Haut geht. Nur mithilfe der meterhohen Flammen, welche am Ende ihres Konzerts wiederholend aus dem Bühnenrand schossen, konnte ich langsam die Gänsehaut von mir ablösen. Die unbeschreibliche Energie trug mich jedoch noch eine ganze Weile wie auf einer 7. Wolke weiter. Und dann war es vorbei. Zwar versuchten Klaxons oder auch Fritz Kalkbrenner erneut ähnliche Funken wie Björk zu versprühen, doch es wurde kälter.
Mein Weg nach Haus verlief so anders als ich es erwartet hatte. Stille umgab mich. Die Bahn stellte sich nicht als so prall gefüllt wie die Frühlingsrolle beim Asiaten am Rosenthaler Platz heraus. Ich setzte mich schnell. Ich wollte zurückdenken. Versuchte mir den Beginn vor Augen zu führen, als ich mir T-Shirt und Jeans heraussuchte, die Treppe der U-Bahn herunterlief und die behundeten Dreadlocks an der Ecke riefen „Die Luft in Berlin!“. Sie läuteten für mich 48 Stunden ein, in denen die Hauptstadt wieder einmal dieses magische Zentrum des Irrsinns, der Verqueren und der Musik wurde.
Artikel und Fotos: Hella Wittenberg