von Ali Lewis
Es ist nie leicht, eine entspannte Atmosphäre über Zoom herzustellen, aber Sam Fender gelingt es mühelos. Es fühlt sich fast so an, als würde man sich mit einem guten Kumpel unterhalten, wie er in T-Shirt und Shorts auf dem Sofa lümmelt und uns von der Inspiration zu seinem neuen Album „Seventeen Going Under“ erzählt. Er ist offensichtlich nicht ganz fit („Ich habe die Männergrippe – die schlimmste Krankheit überhaupt“), erholt sich immer noch von seinen Auftritten beim Reading und Leeds Festival, die zu diesem Zeitpunkt gerade mal eine Woche her sind, und wird immer wieder von Hustenanfällen unterbrochen. Wahrscheinlich ist mit einer Gruppe Journalist*innen über Zoom zu sprechen das letzte, was er gerade tun möchte, und dennoch ist er humorvoll, aufmerksam und bemüht und unterhält uns charmant mit seinen Geschichten. Er ist der geborene Entertainer, aber er hat es auch von der Pike auf gelernt, schon als Teenager zog er seine Runden durch die lokalen Talentwettbewerbe. Vier Tage nach unserem Zoom-Gruppendate wird er aufgrund von Corona seine zwei ausverkauften Shows in Glasgow zum vierten Mal verschieben müssen, da seine gesamte Crew krank ist und man beschlossen hat, vernünftig zu sein und alle einmal durchtesten zu lassen. Die Shows hätten bereits 2020 stattfinden sollen, aber inzwischen ist er solche Rückschläge gewöhnt.
Es ist unmöglich, Sam Fender nicht zu mögen. Wie einfach wäre es für jemanden wie ihn – gutaussehend, talentiert, mit einem Nummer 1 Debütalbum in England in der Hand und einer leidenschaftlichen Fanbase im Rücken – unerträglich arrogant zu sein. Es gibt so viele in seiner Position, die genau das sind. Wenn es ein Wort gibt, das ihn am besten beschreibt, dann ist es Authentizität, und genau diese hält sein Ego wahrscheinlich auch davon ab, zu groß zu werden. Seine Musik ist intelligent, selbstreflektiert und entwaffnend ehrlich und spricht junge Menschen an, die sich mit seinen sozial privilegierteren Zeitgenossen weniger identifizieren können. Ein ähnliches Phänomen wie es damals in den frühen Neunzigern Oasis waren, aber mit einer anderen, für seine Generation typischen Sensibilität und einer weit größeren emotionalen sowie musikalischen Komplexität.
Fender hat sich schon oft mit berührender Ehrlichkeit dazu geäußert was es bedeutet, sich als Außenseiter zu fühlen. Neben seinen britischen Kollegen, mit denen er oft verglichen wird, wie George Ezra, James Bay, Tom Grennan und selbst Ed Sheeran, fühlt er sich oft zu einfach, zu sehr „Working Class“. Natürlich ist er hier, wie so oft, viel zu hart mit sich selbst. Sein Bewusstsein für seine Wurzeln, das Gefühl, dass jedes Wort das er singt auf hart erarbeiteter Erfahrung beruht, hebt ihn von eben jenen Zeitgenossen ab. Er war schon immer ungewöhnlich ehrlich in seiner Musik. Auf seinem 2019 erschienenes Debütalbum „Hypersonic Missiles“ setzte er sich mit Themen wie toxische Männlichkeit, Depressionen und Selbstmord auseinander, er schrieb über die Angst, für immer in schlecht bezahlten Jobs hängen zu bleiben und den Versuch, dieser mithilfe von Alkohol zu entkommen. Im Gegensatz zu vielen, die, seien wir ehrlich, lieber darüber singen auf welches Mädchen sie stehen und wie sie am besten bei ihm zum Zug kommen. Er ist mit Sicherheit nicht der erste, der diese Themen behandelt, aber bei den meisten Künstlern werden sie erst später im Leben relevant. Fender wirkt ein wenig wie eine alte Seele, die aber immer noch mit den Unsicherheiten eines Teenagers zu kämpfen hat.
In England wird „Seventeen Going Under“ mit Sicherheit ein großer Hit werden. Er hofft, wie er sagt, dass Europa und Amerika, wo er (noch) weit weniger bekannt ist, nachziehen werden. Die Arbeit an diesem Album war eine große Herausforderung für ihn. Fender hat schon immer gerne Menschen beobachtet und Geschichten weiter gesponnen, die ihm jemand im Pub erzählt hat. Als der Lockdown dies unmöglich machte, musste er seinen Blick stattdessen nach innen richten. Es sagt etwas aus, dass sein Lieblingssong auf „Hypersonic Missiles“ „The Border“ ist, ein Song, in dem er seine Beziehung zu dem Jungen erkundet, der ihn früher in der Schule gehänselt hat. Auf „Seventeen Going Under“ spielt dieses Narrativ erneut eine Rolle. Er sagt, dass dieses Album für ihn noch viel persönlicher ist. 60 Songs hat er geschrieben und am Ende die ausgewählt, die sich für ihn am persönlichsten anfühlen. Er hat in der Zwischenzeit eine Therapie gemacht und dabei, wie er es beschreibt, „so einiges ausgepackt“. Dieses Album, so Fender, handelt von „Selbstbewusstsein und Erwachsen werden“. Er hat viel über seine Teenagerjahre nachgedacht, darüber wie seine Unsicherheiten ihm stets ein Gefühl von Unzulänglichkeit gegeben haben und „wie diese Unsicherheiten meine romantischen Beziehungen beeinflusst haben und mich einfach zu einem Scheiß-Partner gemacht haben.“ Er ist ehrlich, nahezu schmerzhaft selbstreflektiert („Als ich 25 geworden bin habe ich festgestellt, dass ich einen Scheiß weiß“, sagt er), aber er hat auch Humor, und genau das macht ihn so besonders liebenswert. Er macht Scherze darüber wie er versucht, die Traurigkeit in seinen Songs mit einem „großen, fröhlichen Saxophon“, dem, wie er es nennt, „happy sax“ zu konterkarieren. Er spricht über seine Obsession, ständig Star Wars zu zitieren. Richtig niedlich ist es, wie er plötzlich nicht mehr so entspannt ist, als wir anfangen, gemeinsam Songs aus dem Album zu hören. Ständig ändert er seine Position, beugt sich nach vorn, verschränkt die Arme, irgendwann schwenkt er sie im Takt der Musik. Es ist greifbar, wieviel ihm das alles bedeutet.
„Seventeen Going Under“ ist nicht nur persönlicher als sein Debüt, es ist auch ambitionierter. Es dürfte die Kritiker zum Verstummen bringen, die das erste Album mit seinen 12 Gitarren-getriebenen Songs zu eindimensional, zu eintönig fanden. Die Kritik erscheint trotz allem übertrieben hart. Fender hat noch nie ein Hehl daraus gemacht, dass Bruce Springsteen einer seiner größten Einflüsse ist. Aber unter all den großen Gitarren ist bei ihm stets Platz für die ungehörten Stimmen, für die Erfahrungen der Benachteiligten und der von der Gesellschaft Vergessenen, und das hat ihn schon immer von anderen abgehoben. Trotzdem offenbart dieses Album neue musikalische sowie emotionale Aspekte seines Talents, die seinen Sound weiter vorantreiben und vielfältiger machen. Der Titelsong ist in England bereits zum Hit avanciert und ein Paradebeispiel für das, was Sam Fender ausmacht: Eine Achtziger-Jahre-Springsteen-Hymne mit Lyrics voller Wut und Traurigkeit. In ihr wird sich jeder wiederfinden, der in einer Gesellschaft aufgewachsen ist, in der Macht mit Fäusten gewonnen und verteidigt wird: “See I spent my teens enraged / Spiralling in silence / And I armed myself with a grin/Cause I was always the fuckin’ joker”.
Die aktuelle Single „Get You Down“ hat sowohl musikalisch als auch thematisch einen ähnlichen Spirit. Die Lyrics sind offensichtlich von den Therapiesitzungen inspiriert, die er erwähnt hat: “Catch myself in the mirror / See a pathetic little boy / Who’s come to get you down”. Es ist herzerwärmend zu sehen, wie seine männlichen Fans bei seinen Auftritten zu diesen Songs feiern. Wenn er nicht existieren würde, Eltern, Lehrer*innen und Sozialarbeiter*innen hätten ihn erfinden müssen – er ist das perfekte Vorbild für junge Männer in der heutigen Zeit.
Fender war schon immer politisch, er hatte schon immer eine Meinung – auch etwas, das ihn von vielen seiner Zeitgenossen abhebt. „Aye“ ist voller Wut und nimmt kein Blatt vor den Mund in seiner Kritik gegenüber dem aktuellen politischen Klima in England und dessen Versagen, die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung zu vertreten. “I don’t have time for the very few / they never had time for me and you”, stößt er wütend aus. „Paradigms“ handelt von toxischer Männlichkeit, steuert auf einen emotionalen Höhepunkt aus Klavier, Streichern und Percussion zu und nimmt dann eine überraschende Wendung hin zu nichts weiter als Fenders Stimme und einer einzelnen Gitarre. “No one should feel like this” wiederholt er zum Ende und schlägt damit sogar eine Brücke zu Tori Amos‘ frühem Schaffen.
Und dann ist da noch das atemberaubende „Long Way Off“, ein besonders mutiger, ehrgeiziger Song über die Trump Unterstützer, die im letzten Jahr das Capitol stürmten. Wenn man ihn darüber sprechen hört wird sofort deutlich, wie stolz er darauf ist, und sein Stolz ist gerechtfertigt. Sowohl inhaltlich als auch musikalisch ist es vielleicht der beste Song, den er je geschrieben hat. Die 164 Spuren (unter anderem ein Streichorchester, Synthesizer, Drums und Background Vocals von seiner Freundin und aufstrebendem Popstar L Devine) wecken Erinnerungen an The Verves „Bittersweet Symphony“, während er selbst den Song als „etwas in Richtung Bond Theme“ beschreibt. Es ist ein interessanter Vergleich. Rein optisch verkörpert Fender perfekt die klassische Bond-Männlichkeit, steht in Wirklichkeit aber für eine andere, viel inklusivere Form von männlicher Identität.
Man fragt sich ob sein Vater, über den er im anschließenden Song singt, Bond-Fan ist. Wenn „Long Way Off“ vielleicht sein größtes musikalisches Experiment ist, dann ist „Spit of You“ Sam Fender in seiner Essenz. Er erzählt uns die Geschichte einer Unterhaltung zwischen ihm und seinem Vater über toxische Männlichkeit, in der sein Vater ihn besorgt fragt, ob er ihm „das“ weiter gegeben habe. „Ich habe gesagt oh nein, hast du nicht“, erzählt er uns. Es ist rührend, wie bemüht er ist, seinen Vater nicht zu verletzen oder ihm die Schuld zu geben für unbewusst vermittelte, problematische Rollenbilder. Er sagt, der Song ist eine Liebeserklärung an seinen Vater, die herzzerreißende Textzeile “I can talk to anyone / I can’t talk to you” wird untermalt von einer plinkernden Gitarre und seinem geliebten „big, happy sax“. Es ist einer der schönsten Songs auf dem Album, ein leises, trauriges Portrait der Schäden, die das „Boys Don’t Cry“ Narrativ ganzen Generationen von Männern zugefügt hat.
„Seventeen Going Under“ hat viele dieser ruhigen, oft zärtlichen Momente. Fender hat offensichtlich gelernt, dass er nicht immer möglichst viel Lärm machen muss, um sein Publikum zu erreichen. Auf „Mantra“, einem langsamen Americana-Song, klingt er fast wie Joni Mitchell, aber natürlich mit einer Portion „happy sax“. Und auch der letzte Song „The Dying Light“ erinnert mit seinem Klavierthema an Joni Mitchell. Er galoppiert in seiner Emotionalität nur so davon und fasst Fenders musikalische wie thematische Reihe von seinem Debüt hin zu diesem Album perfekt zusammen. Er bestätigt damit den Wert seiner Selbst als Person und seiner Musik: denjenigen eine Stimme zu verleihen, die zu wenig zu Wort kommen: “For Mum and Dad and all my pals / For all the ones who didn’t make the night.”
Sam Fender beschreibt dieses Album als Schlusskapitel, er möchte einen Schlussstrich ziehen unter seinem jüngeren Selbst und den Unsicherheiten seiner Jugend. Es ist bemerkenswert was er erreicht hat, aber man spürt, dass der junge Mann, der auf dem Sofa sitzt und aufmerksam unsere Reaktionen studiert, noch lange nicht am Ziel ist. Er wird sich immer weiter vorantreiben und vielleicht nie wirklich glauben, dass er gut genug ist. Für ihn ist das wahrscheinlich gleichermaßen Fluch und Segen. Man kann nur gespannt darauf sein, was sein drittes Album erzählen wird und hoffen, dass er mehr und mehr an sich selbst glauben wird. Wenn es irgendjemand verdient hat, dann er.
Der Artikel ist im Original auf Englisch erschienen.