Róisín Murphy im Interview: „Meine Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt, ich mache mir mein eigenes Happy End“

Róisín Murphy gehört zu den wenigen Künstler*innen, zu deren Musik ich, ohne zu übertreiben, bereits mein halbes Leben lang tanze. Sowohl zu ihrer Arbeit als Solokünstlerin wie bereits früher, als sie noch Frontfrau der wegweisenden Electro-Band Moloko war. Auf Privatparties, nachts nach Ladenschluss in der Videothek in der ich damals gearbeitet habe, auf Festivals und großen Konzerten. Besonders erinnere ich mich an ihr Konzert im Berliner Tempodrom, das kurz nach dem Anschlag auf das Bataclan in Paris stattfand. Es war ein besonderer Abend, ich musste erst einmal die Angst überwinden, um herauszufinden, dass genau das immer noch das ist, wofür ich lebe: mit anderen Leuten zusammen Musik zu hören und dazu zu tanzen, mich selbst in einer Masse Fremder irgendwie sicher zu fühlen. 

Róisín Murphy ist außerdem die einzige Künstlerin, die ich jemals mit einer Handtasche auf die Bühne habe kommen sehen. Vielleicht ist das der Grund, warum ich sie mir automatisch so vorstelle, als wir uns am Telefon unterhalten, sie Zuhause in London, ich an meinem Schreibtisch in Berlin. Ich weiß nicht wieso, aber die Art wie sie redet, ernsthaft, lustig, nachdenklich und gesprächig, lässt vor meinem inneren Augen das Bild entstehen, dass sie dort sitzt mit einer Handtasche im Schoß und lässig eine Zigarette raucht. Letzteres ist wahrscheinlich sogar wahr, ich meine irgendwann ein Feuerzeug klicken zu hören und wie Róisín einen tiefen Zug nimmt. 

Die Corona-Krise und ihre Auswirkungen auf die Welt haben mich schon den ein oder anderen seltsamen Pfade entlang geführt. Diese Unterhaltung war definitiv einer der guten. 

Hallo Roísín, wie geht es dir?

Mir geht es gut, wie geht es dir?

Oh gut, danke, aber mein Leben ist gerade bestimmt nicht so spannend wie deins.

Wo bist du im Moment?

Ich bin zuhause in meiner Wohnung in Berlin, nebenan spielen drei Kinder Lego.

Der Herbst ist da! Und mit ihm der Regen.

Ich weiß nicht wie es dir geht, aber ich habe keine Ahnung, wo dieses Jahr hin ist. Obwohl nicht viel passiert ist. 

Es ist seltsam. Im Sommer hatte ich das Gefühl, die Zeit vergeht so langsam. Es war der längste, zäheste Sommer, den ich seit langem erlebt habe. Und dann jetzt, seitdem ich wieder zurück bin, ist alles sehr schnell gegangen. Ich habe neulich zu jemandem gesagt ich fühle mich nicht als wäre ich in London, ich fühle mich als wäre ich in einer Simulation, in der Matrix (lacht). Hier sitze ich, rede mit dir in Deutschland, danach spreche ich mit jemandem in Amerika und danach werde ich mit jemandem aus einem anderen Land zusammen arbeiten. Alles von hier aus, auf immer dem gleichen Stuhl. Total verrückt. 

Ein bisschen wie eine Zeitschleife, oder? Immer am gleichen Ort.

Ich bin nicht in der Realität! Ich bin irgendwo im Internet. 

Wie waren die letzten Wochen für dich, seitdem dein Album erschienen ist? Das muss doch eine ganz andere Erfahrung als sonst sein. 

Ich werde das hier lange nicht vergessen. Es war unheimlich, paradox… und aufregend! Ich konnte von Zuhause aus über alles die Kontrolle behalten und dabei ein gewisses Maß an Energie sparen. Du verschwendest keine Energie damit, durch große Hotels zu laufen, die ein PR-Mann für dich gebucht hat, um dort Interviews zu machen. Du musst erst einmal dort hinkommen, dich zurecht machen, dann läufst du dort hinein und triffst den ersten Journalisten, das ist manchmal seltsam. Und eventuell denkst du okay, ich hätte jetzt nicht dieses Hotel gebucht (lacht). Und dann ist draußen eine Schlange von Journalisten, an denen jeder Journalist vorbei gehen muss, ihr kennt euch alle untereinander und sagt hallo, manchmal ist es peinlich (lacht). Wer weiß, vielleicht ist das hier der beste Weg um Interviews zu machen, man konzentriert sich auf die Message, die Fragen und die Antworten.

Jetzt wo du das so sagst muss ich zugeben, es klingt ganz schön stressig…

Es ist jetzt keine Riesen Party. Ich bin mir sicher wir werden aus dem hier eine Lektion lernen und so etwas wie Pressereisen nicht mehr so oft machen. Man kann viel Arbeit erledigen, ohne dabei so viel Energie zu verschwenden, wie wir es bisher getan haben. Vieles wird sich verändern. Die Kehrseite ist, dass viele Büros leer stehen, kleine Kaffees und Kinos sterben werden… ach, Liebes, es macht keinen Sinn drüber nachzudenken. Es ist zu deprimierend. 

Ja, das ist es… lass uns uns auf positivere Dinge konzentrieren. Du arbeitest gerade an einer Streaming Show!

Ja! Es ist aufregend. Ich werde mit Band auftreten. Ich habe alles was möglich ist getan, um meine Band wieder zusammen zu kriegen. Ich muss gemeinsam mit meiner Band diesen Moment markieren und sehen, wie er sich auf die Live-Erfahrung überträgt. Das ist meine einzige Chance, es mit diesem Album zu tun. Wie auch immer, es ist ein 360 Grad Problem für mich, als Regisseurin muss ich mir Gedanken über das Konzept machen, über das wie, wo und wann. Über die Geschichte dahinter, die Kameras die wir benutzen werden und die Fahrten, die diese Kameras machen werden. Wir werden in einer großen Lagerhalle aufzeichnen, in dem all das Licht- und Soundequipment lagert, das jetzt normalerweise auf Tour wäre. In der Mitte von allem dem wird man mir eine Stadionbühne mit Bildschirmen bauen. Ich muss mir überlegen, welche Inhalte diese Bildschirme zeigen sollen und mir zusammen mit dem Lichtdesigner Gedanken über die Lichtstimmung machen. Die Visuals mache ich selbst, sie kommen zum Teil direkt aus meinem Telefon. Und dann muss ich mir natürlich Gedanken darüber machen was ich anziehe, was die Band anziehen wird (lacht)… und was ich wann anziehe. Mein kreativer Muskel arbeitet non stop. Ich habe mich in die kreative Matrix begeben, das ist noch so eine Dimension, in die man sich begeben kann. Ich bin dort schon immer hin gegangen, schon als Kind. Ich hatte eine verrückte Kindheit, lauter verrückte Menschen um mich herum, wunderbare, großartige Menschen, aber wahnsinnig viel Drama. Wenn es mir zu viel Drama wurde, habe ich mich in mein Zimmer ganz oben im Haus zurück gezogen. Es war ein großes, kaltes Haus ohne Zentralheizung oder Teppichboden, aber ein wunderschönes altes Haus. Mein Zimmer war weit weg von allen anderen und ich habe mich dort stundenlang aufgehalten, habe gezeichnet, Dinge gebastelt, umdekoriert, mich verkleidet, habe mich ans Fenster gestellt und für die Leute performt, die draußen mit dem Auto vorbei gefahren sind. Ich habe das schon immer gemacht. Und wenn man mich mit sieben Jahren gefragt hat, was ich einmal werden will, dann habe ich jedem sehr altklug gesagt, dass ich Künstlerin werden möchte. So war ich schon immer. Und ich glaube, jetzt ist eine gute Zeit um so zu sein. 

Denkst du, dass du die Reaktionen vom Publikum vermissen wirst? Es muss doch sehr anders sein, zusammen mit deiner Band aufzutreten aber nur vor Kameras.

Ich glaube nicht. Ich denke, es eröffnet andere Möglichkeiten. Selbst die kleinen Filme, die ich während des Lockdowns Zuhause gedreht habe fühlen sich für mich an, als wären sie vor Publikum entstanden. Ich habe die Leute im Kopf, ich kenne sie, auf eine Art kann ich so sogar noch näher an sie ran kommen. Live kann man zum Beispiel keine Close-Ups machen. Ich meine, man könnte eine Kamera direkt vor dem Gesicht haben und sich selbst auf eine große Leinwand beamen. Aber es gibt da etwas, das habe ich von Fernsehauftritten gelernt, besonders aus dem italienischen Fernsehen der Sechziger und Siebziger. Sie hatten diese großartigen Studios und großartige Art Direction mit unglaublichen Kamerakränen, aber sie sind immer sehr nah an die Gesichter herangegangen. Und wenn man in unsere Gesichter blickt, dann sieht man, dass die Augen das Fenster zur Seele sind. Wirklich, es ist so unglaublich komplex, was Gesichter ausdrücken können. Ich glaube, man muss sich das Ganze ansehen und sich überlegen, wie man die Dinge anders aufziehen kann als wenn es eine Live Show vor Publikum wäre. Auch die Art, wie man den Raum nutzt – ich werde den ganzen Raum nutzen! Und in der Mitte von allem die Bühne. Es gibt uns andere Möglichkeiten. Aber ich möchte auch nicht, dass es Live Shows auf Dauer ersetzt. Überhaupt nicht! Ich denke, es kann Hand in Hand gehen, und ich freue mich, etwas Neues auszuprobieren. Aber… natürlich, ich würde liebend gerne wieder eine Show vor Publikum spielen!

Normalerweise stehe ich ja auf der anderen Seite der Bühne. Ich weiß natürlich, dass es im Moment einfach nicht geht, aber ich vermisse Konzerte so sehr. Ich weiß nicht wie es dir damit geht, aber ich komme gerne Menschen beim Tanzen nahe. Social Distancing fällt mir ganz schön schwer. 

Ich würde wahnsinnig gerne in einen Club gehen und tanzen! Aber ich tanze dafür im Park herum, wie gestern erst. Wenn ich nach draußen gehe, kann ich manchmal nicht aufhören zu tanzen, und es ist mir egal, was andere darüber denken. Tatsächlich dachte ich gestern erst, als ich im Park war, dass es diese Regel geben sollte: du darfst nach draußen gehen, du darfst in den Park gehen, aber nur wenn du dabei tanzt. 

Ha! Das wäre eine tolle Regel. 

(lacht) Sobald du die Schwelle zum Park überquerst, musst du springen und tanzen. Ich glaube tanzen und vor allem zusammen mit anderen tanzen ist fast wie… du weißt ich bin kein Hippie aber… es fühlt sich an wie ein Wald. Wie eine Form der Kommunikation, wie Bäume in einem Wald, die miteinander sprechen. Gibt es nicht diese Theorie, dass Bäume unter der Erde miteinander kommunizieren? Die Wurzeln verbinden sich. Genau das passiert, wenn du auf einem guten Dancefloor bist. Die Wurzeln verbinden sich. Und zwar nicht nur die aller Menschen auf der Tanzfläche, sondern die von allen Menschen auf der ganzen Welt. All der Schmerz und all die Freude, alles auf einmal! Sprach sie poetisch (lacht). 

Das bringt mich auf eine meiner Lieblings-Textzeilen auf deinem Album: „How dare you sentence me to a life without dancing?“ Das wäre so schrecklich!

Ja! Weißt du, was Alan Watts übers Tanzen sagt? 

Nein. 

Du kennst Alan Watts, oder? Den Philosophen. Er war ein Guru für alle möglichen Arten von Spiritualität, auf der ganzen Welt, großartiger Typ. Und er hat über das Tanzen gesagt: Wenn du versuchst zu verstehen, worum es im Leben geht, dann wirst du herausfinden, dass die Menschen sehr zielorientiert sind. Sie sehen das Leben wie eine Leiter, sie müssen ständig irgendwo hin. Es gibt immer ein Ziel. Das verursacht so viele Sorgen und Ängste. Und so viel Enttäuschungen, denn wenn man das Ziel erreicht hat, kommt danach einfach nur das nächste, es ist nie genug. Watts sagt, wenn zwei Menschen miteinander tanzen, dann steckt keine Logik dahinter. Sie sind nirgendwo hin unterwegs, es gibt keinen Anfang und kein Ende. Es ist total unsinnig, aber es ist absolut alles was wir sind! Wissenschaftler sagen, wir nutzen alles was wir sind, wenn wir tanzen. Wir nutzen unser mathematisches Gehirn, wir nutzen unsere kreativen Sinne, unsere rechte und linke Gehirnhälfte… all das verbindet sich in einer einzigen, einfachen, großen Geste!

Ich glaube ja, dass wenn man Menschen die Möglichkeit nimmt, sich hedonistisch auszuleben, das auf die Dauer schädlich für die Gesellschaft ist. 

Absolut. Keine Gesellschaft kann lange mit diesen Einschränkungen existieren. Diese Art von totalitären Maßnahmen bringen uns am Ende alle in Schwierigkeiten. Ich weiß es nicht… das wird jetzt vielleicht zu politisch. Ich halte mich gerne an die Maßnahmen, ich will einfach nur weiter tanzen. Und ich tanze alleine, mit meinem Mann, ich habe vor ein paar zwei Wochen den DJ für zwei Leute gemacht und wir haben die ganze Nacht getanzt. Damit werde ich nicht aufhören.

Ich muss sagen, es berührt mich regelrecht, wie lange Du als Künstlerin schon aktiv bist. Ich tanze schon buchstäblich mein halbes Leben zu deiner Musik. Mit so einer Karriere im Rücken, machst du dir dann überhaupt noch so viele Gedanken, wenn die Dinge sich ändern? Du wirkst auf mich sehr entspannt, muss ich sagen.

(lacht) Ich glaube, ein bisschen wird man einfach so mit den Jahren, oder? Wenn du älter wirst, erkennst du leichter die Muster deines eigenen Verhaltens, du siehst deine Sorgen und Ängste und du siehst, dass Dinge sich regeln. Dadurch lernst du ein bisschen mehr daran zu glauben, dass die Dinge sich irgendwie regeln. Die Wahrheit ist, ich weiß, ich bin seit 27 Jahren da. Aber ich habe mich noch nie, auch jetzt nicht, wirklich in Sicherheit gefühlt. Ich habe stets das Gefühl, dass ich immer noch mehr geben muss. Das nächste Album wird mein bestes. Und dann macht alles seinen Sinn. Wenn du immer mehr Bausteine anfügst und die Geschichte immer länger wird. Dann klären sich diese Sprünge zwischen manchem was du gemacht hast, das die Leute damals vielleicht nicht verstanden haben. Wie zum Beispiel passt das Mädchen mit den schönen Haaren in „The Time Is Now“ mit der verrückten Lady aus dem „Pure Pleasure Seeker“ Video zusammen? Die Leute denken ein bisschen: „Wer ist sie? Was ist sie jetzt genau?“ Je länger du durchhältst, umso mehr bügelt sich das aus. Am Ende ist für mich alles das, was es von Anfang an war, eine einzige große Geschichte. Alles was ich möchte ist, einen ehrlichen Standpunkt auszudrücken. Das kann manchmal kompliziert sein. Aber ich fühle mich darin nie sicher und sollte es auch nicht, denn ich verkaufe eine bestimmte Menge an Platten und eine bestimmte Menge an Tickets und ich muss die Maschine am Laufen halten. Ich kann mich nicht zurücklehnen und denken: „Oh, ich habe es geschafft!“ Meine Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt, ich mache mir mein eigenes Happy End.  

Das ist eigentlich so ein schönes Schlusswort. Es gibt nur noch eine Sache, die ich an dich weitergeben wollte. Neulich habe ich gehört wie jemand gesagt hat: „Dance Music ist so limitiert, wenn es darum geht, Gefühle auszudrücken.“ Und ich habe mich direkt gefragt, was du dazu sagen würdest. 

Diese Person ist eindeutig in der falschen Disco.

Perfekt zusammengefasst!

(lacht) Nein, das stimmt einfach nicht. Es ist genau andersrum, oder? Dance ist ein großes, komplexes Ding. Es kann so vieles sein. Aber ich würde dieser Person vor allem gerne sagen, dass es in der Welt der Disco Musik erstaunlich wenig Platz für Macho Egos gibt und dass sie das bestimmt schätzen würde, wenn sie es verstehen würde. Das ist im Vergleich zum Großteil der Pop- und Rockwelt sehr erfrischend. Es funktioniert ganz anders als man annehmen würde, wenn man sich den EDM Blödsinn ansieht, der in den letzten Jahren passiert ist. Ich finde diese Welt auf jeden Fall sehr erfrischend. Männer und Frauen sind gleich, es ist keine Machowelt. Alles fließt!

Roísín Murphys neues Album „Roísín Machine“ ist bereits erschienen. Am 14. November spielt sie eine exklusive Live-Show über Mixcloud, Tickets dafür gibt es hier.