Irgendetwas stimmt hier nicht. Die Abendsonne kitzelt um die Nase und will mit den vergangenen Regentagen versöhnen, Menschenknäuel bewegen sich laut lachend gen Zitadelle. Denn dort werden schon in wenigen Stunden Trent Reznor und seine Mannen, alias Nine Inch Nails, das 2013er Album „Hesitation Marks“ sowie eine bunte Oldies-but-Goldies-Mischung dem Berliner Publikum live vorstellen. Doch noch einmal von vorn: ein Teil des Puzzles passt nicht mit dem Rest zusammen, dieses idyllische Vorabend-Szenario in Spandau fühlt sich falsch an. Schließlich ist NIN-Kopf Trent Reznor nicht gerade für seine ansteckende Lebensfreude in seinen Songs bekannt. Und doch bietet man zum Einstand des Citadel-Musikfestivalsommers hinter dicken Steinmauern Frisches vom Grill und kleine, leicht verdauliche Häppchen zu den schwer verdaulichen Texten Reznors. Oder was soll man von einem Herren halten, dessen aktueller Albumtitel sich auf Verletzungen bezieht, welche vor dem Tötungsakt entstanden sind? Schluck.
Als es losgeht, zieht es die Massen weg von den großzügig verteilten Ess- und Getränkebuden. Nur hin zur Zitadellen-Bühne. Würde man in diesem Augenblick eine Luftaufnahme machen, könnte man das Gefühl bekommen, dass sich hier ein großer Ameisenhaufen konstruiert. Ein Ameisenhaufen, der sich um seine Königin schart. Oder wie in diesem Fall um Trent Reznor – den König. Des Rock, des Düsteren, der 90er wie auch des neuen Jahrtausends. Mit Superlativen soll man ja bekanntlich vorsichtig sein. Aber welcher Musiker kann schon von sich behaupten einen Oscar im Regal stehen zu haben? Eben. Der dazugehörige Film war Mark Zuckerbergs Quasi-Lifestory „The Social Network“. Schon mal gesehen? Die Schnelligkeit, mit welcher einen David Finchers Werk mit der Inszenierung, Dramaturgie und den pointierten Dialogen umhaut, mit genau solch einem wellenartigen Durchmarsch ziehen auch Nine Inch Nails die international vertretende Fangemeinde in Schwarz auf ihre Seite.
Die Nebelschwaden stehen dicht über dem Gelände als Reznors tiefe, ruhige Stimme in das Mikrofon den ersten Song „Me, I’m Not“ von dem 2007er Tonträger „Year Zero“ anstimmt. Sanft wippen sich die Besucher in eine neue Donnerstagabendstimmung hinein. In dem Stück heißt es „And I’m Losing Control“, aber bis dieser Zustand tatsächlich auf beiden Seiten erreicht ist, müssen noch einige weitere Stücke gezählt werden. Als dann „All Time Low“ in vollem Gange ist, verändert sich die Atmosphäre noch einmal sichtbar. Wir sind auf einer Ebene, zeitlich und gefühlsmäßig. Die pompösen Farben, die Umgebung, Trent Reznors Präsenz (er muss noch nicht einmal viel mit dem Publikum kommunizieren). Alles findet zusammen. Wir sind zusammen. Weit weg von den Gedanken zur gegenwärtigen Lage abseits dieser außergewöhnlichen Stunden, welche man mit so vielen Gleichgesinnten verbringt, die man doch eigentlich gar nicht kennt. Aber wir verstehen uns. Wir alle besingen „Survivalism“ und achten dabei aufeinander. Wir tanzen, unsere Körper berührend und den Beat fühlend, zu den Klängen von „The Great Destroyer“. Insgesamt 23 Songs performen Nine Inch Nails vor fast 10 000 Zuschauern. Darunter viele Klassiker, wie „Head Like A Hole“ (bei dessen Refrain Reznor sich auch mal auf die Gesangskünste seiner Mitstreiter verlässt) „Closer“, „Wish“ oder zum Beispiel auch „Hurt“, bei welchem die Anwesenden den mittlerweile 49-jährigen kaum zu Wort kommen lassen und den Stehnachbarn entgegenjohlen „I will make you hurt“. Trent Reznor hustet, stützt die Hände und Arme auf den klapprigen Mikrofonständer und vergräbt seinen Kopf zwischen den Schultern. Diese bewegen sich merklich auf und ab – als ob er um jeden weiteren Atemzug ringen müsste. Der grüne Laserstreifen bleibt die gesamten zwei Stunden als Verbindung zwischen Bühne und dem hinteren Bereich des Open-Airs bestehen. Wie eine Sicherheit. Eine Reißleine, die nun nach „Hurt“ gezogen werden würde. Wie tief wohl ein Fall für Reznor nach solch einer Show ist?
Und dann ist es vorbei. Die Sonne hat sich verabschiedet, die Glieder schmerzen. Aber es breitet sich das sichere Gefühl aus, dass der Bass noch eine Weile im Blut gemischt durch die Adern und den ganzen Körper gehen wird. So wie Trent Reznors Blick, der einem sagen will: ich bin nicht zu vergessen.
Fotos: David Streit