Eigentlich dachte ich, ich wäre kein Typ für Midlife Crisis. Und doch, wenn man es auch nicht unbedingt als Krise bezeichnen kann, merke ich, dass sich meine Bedürfnisse, je näher ich auf meine (wahrscheinliche) Lebensmitte zuschreite, merklich verändern. Vielleicht liegt es daran, dass meine Kinder, wie man so schön sagt, „aus dem Gröbsten raus sind“ und nicht mehr so schnell wachsen. Ich habe auf jeden Fall eine kindliche Begeisterung dafür (wieder)entwickelt, Dinge wachsen zu sehen.
Auf unseren Fensterbänken tummeln sich Töpfe mit Erde, in denen die Kinder und ich nach Lust und Laune alle Kerne stecken, die wir zur Hand haben. Wir haben Miniatur Apfel-, Orangen- und Zitronenbäumchen, Tomaten- und Paprikastauden und drei inzwischen ganz schön amtliche Avocado-Bäume. Ich bin ein überzeugter Stadtmensch, sehne mich aber zunehmend nach einem Garten, in dem ich nach Lust und Laune werkeln, säen und ernten kann. Während dieses entsetzlich trockenen Sommers sind wir abends nach draußen gegangen und haben die Bäume in unserer Straße gegossen. Ich fände es schrecklich traurig, direkt vor unserem Fenster einen Baum sterben zu sehen – bei uns um die Ecke hat es bereits einen erwischt. Er ist einfach abgestorben und steht jetzt da, schwarz, knorrig und verdorrt.
Richard Powers „Die Wurzeln des Lebens“
Durch Zufall sind mir dieses Jahr hintereinander zwei Bücher in die Hände geraten, die sich, beide auf sehr unterschiedliche Weise, mit der Natur und ihrer unmittelbaren Wirkung auf den Menschen beschäftigen. Gerade als im Hambacher Forst Umweltaktivisten gegen die Abholzung des Waldes durch den Energiekonzern RWE protestierten, erschien bei uns „Die Wurzeln des Lebens“ von Richard Powers. In dem neuen Roman des US-amerikanischen Schriftstellers gibt es gleich neun Hauptfiguren und eine zehnte obendrauf, nämlich die Bäume, zu denen jede der Figuren aus unterschiedlichen Gründen eine enge Beziehung entwickelt. Zum Beispiel Nick, in dessen Garten eine von seinen Vorfahren gepflanzte Kastanie steht, dessen Entwicklung über vier Generationen hinweg in einem Fotoritual festgehalten wird. Jeden Monat ein Foto, immer um die gleiche Zeit, immer aus der gleichen Perspektive. Oder das Paar Ray und Dorothy, die sich bei einer Laienaufführung von Shakespeares „Macbeth“ kennenlernen, dem Stück in dem der Wald sich in Bewegung setzt, und die beschließen, zur Feier ihrer Beziehung jedes Jahr etwas zu pflanzen. Die Figuren haben aber nicht nur eine besondere Beziehung zu Bäumen, sie werden im Lauf ihres Lebens auch zu Aktivisten, die die Zerstörung der Wälder, das immer exzessivere Roden zur Holzgewinnung nicht hinnehmen wollen. Sie protestieren, sie treffen sich, sie gehen einen Pakt ein und opfern einen Teil ihres Lebens den Bäumen. Nick begegnet Olivia, die nach einer Nahtoderfahrung Stimmen hört, die die beiden zu einem Aktivistencamp führen. Sie werden über Monate hinweg gemeinsam in der Krone eines Redwood Baums leben. Währenddessen widmet sich die Professorin Patricia Westerford ihren Studien um zu beweisen, dass Bäume miteinander kommunizieren, von der Wissenschaft abwechselnd geächtet und gefeiert.
Die Technik, Charaktere in einzelnen, augenscheinlich unzusammenhängenden Erzählsträngen einzuführen und sie nach und nach aufeinander zuzubewegen ist nicht neu, Richard Powers treibt sie aber auf die Spitze. Fast 200 Seiten lang fragt man sich, wie er aus all diesen Geschichten am Ende ein homogenes Ganzes machen möchte. Aber es gelingt ihm, und fast wie nebenbei folgt sein Roman auch noch der Struktur eines Baumes. Die einzelnen Figuren werden als „Wurzeln“ angelegt, finden im „Stamm“ zueinander, in der „Krone“ ihre Bestimmung und hinterlassen als „Samen“ Spuren für die Zukunft.
Paolo Giordano „Den Himmel stürmen“
In Paolo Giordanos „Den Himmel stürmen“ ist das Lebens mit der Natur nicht das Hauptthema, aber dennoch ein wichtiger Aspekt. Als großer Fan seines Debütromans „Die Einsamkeit der Primzahlen“ war ich sehr gespannt auf Giordanos neues Werk und habe es tatsächlich in wenigen Tagen verschlungen. Wie schon in den „Primzahlen“ geht es auch hier vor allem um unerfüllte Liebe, aber auch um den Versuch, die Natur besser zu verstehen, darum wie man sie sich zu Nutze macht, ohne, wie der Mensch es gerne tut, Raubbau an ihr zu betreiben. Es geht um Teresa, die als Jugendliche die Sommerferien immer bei ihrer Großmutter in Apulien verbringt. Eines Nachts beobachtet sie, wie drei Jungs in den Garten eindringen und heimlich in Pool schwimmen, bis sie von Teresas Vater und dem Hausmeister vertrieben werden. Die Brüder Tommaso und Nicola und ihr Cousin Bern wohnen nebenan auf einem Hof bei Cesare, der die drei, streng nach christlichem Glauben, wie Brüder aufzieht. Bern wird Teresas große Liebe, eine Zeitlang wird sie mit ihm und einer Gruppe von Aussteigern auf dem Hof leben, wo sie versuchen, alternative, ökologische Landwirtschaft zu betreiben, mit so wenig Eingriffen in die Natur wie möglich. Aber, wie es bei Giordano gerne der Fall ist, schlägt das Schicksal unerbittlich zu. Die Liebe zwischen Teresa und Bern wird durch den unerfüllt bleibenden Kinderwunsch der beiden auf eine harte Probe gestellt. Als Teresa Bern schließlich verlässt, versucht er seine Bestimmung als Umweltaktivist zu finden, er kämpft um den Erhalt eines Olivenhains, wird in einen Mord verwickelt und muss vor der Polizei fliehen. Als er und Teresa sich schließlich wieder begegnen, hat er einen Ort gefunden, an dem er eins mit der Natur werden kann – mit allen Konsequenzen.
Paolo Giordano erzählt „Den Himmel stürmen“ in verschachtelten, einzelnen Strängen, die sich über zwanzig Jahre hin erstrecken. Dabei springt er vor und zurück, enthüllt die wahren Ausmaße des Dramas und die Rolle, die seine Figuren darin spielen, erst nach und nach. Nicht mit allen wird man warm, manchmal spürt man eine gewisse Distanz, trotzdem ist ihm wieder ein packender, vielschichtiger Roman gelungen, der die Macht der Liebe der Kraft der Natur gegenüber stellt. Den Hof, der für Teresa zu einem zentralen Ort wird, beschreibt er abstoßend und anziehend gleichermaßen, man spürt die Faszination, die die jungen Leute für dieses selbstbestimmte, aber auf die Dauer für die meisten von ihnen zu harte Leben empfinden.
Ich habe mich mit Paolo Giordanos „Den Himmel stürmen“ etwas leichter getan als mit Richard Powers „Die Wurzeln des Lebens“, da „Den Himmel stürmen“ die klassischer erzählte, mitreißendere Geschichte ist. Richard Powers auf der anderen Seite gelingt es, ohne erhobenen Zeigefinger, rein durch das Erzählen von Geschichten in seinen Lesern Mitgefühl für Bäume zu entwickeln. Das ist schon etwas Wertvolles in einer Zeit, in der selbst in Europa immer noch illegal Holz in naturgeschützten Nationalparks geschlagen wird und in Brasilien ein Präsident an der Macht ist, der das Abholzen der für die Menschheit lebenswichtigen Regenwälder vorantreiben will.
Derweil pflege ich weiter meine kleine, grüne Lunge auf der Fensterbank. Und lese Bücher wie diese, die auf so wunderbare Weise gleichzeitig unterhaltend und Horizont erweiternd sind.
Info: „Die Wurzeln des Lebens“ von Richard Powers ist im Fischer Verlag erschienen, eine Leseprobe gibt es hier. „Den Himmel stürmen“ von Paolo Giordano ist bei Rowohlt erschienen. eine Leseprobe gibt es hier.
Gelesen von: Gabi Rudolph