Das schöne an Zoom Interviews ist, dass man einen kleinen Einblick in die persönliche Umgebung seiner Gesprächspartner*innen bekommt. Natalie Bergman sitzt in ihrer weit entfernten Heimat Los Angeles in einem sonnendurchfluteten Raum, direkt neben einem Flügel, ich derweil in Berlin in meiner Küche, die zugegebenermaßen nicht ganz so glamourös wirkt. Trotzdem findet sie die Zeit das Telefon zu würdigen, das in meinem Rücken an der Wand hängt, ein richtiges Telefon, total Old School, mit Kabel und allem. Wir beginnen das Gespräch also mit freundlicher, beidseitiger Wertschätzung.
Die Ausgangssituation ist wie immer die, dass ich über meine Gesprächspartnerin mehr weiß als sie über mich. Ich würde diesen Text deshalb genau mit dem beginnen, was ich Natalie auch persönlich gesagt habe: dass ich großen Respekt vor ihr habe. Sie hat mit „Mercy“ nicht nur ein schlichtweg wundervolles Soloalbum veröffentlicht, die Geschichte, die der Entstehung dieses Albums zugrunde liegt ist außerdem gleichermaßen herzzerreißend wie bewundernswert.
Wenn man sich ihre Lebensgeschichte ansieht und das, was sie mir im Gespräch erzählt, wird schnell deutlich, dass Natalie Bergman ein Familienmensch ist. Familie, Glaube und Musik waren schon immer die drei großen Säulen ihres Lebens. Ihre musikalische Karriere hat sie ursprünglich gemeinsam mit ihrem älteren Bruder Elliot auf die Beine gestellt, mit dem sie gemeinsam das Duo Wild Belle gegründet hat, als das sie ein ganzes Jahrzehnt lang aufgetreten sind und Musik veröffentlicht haben. Ihre Mutter starb, als Natalie 15 Jahre alt war. 2019, an dem Tag, an dem sie und ihr Bruder auf der Bühne der Radio City Music Hall stehen sollten, bekamen die beiden die Nachricht, dass ihr Vater und ihre Stiefmutter bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, verursacht von einem betrunkenen Fahrer.
Irgendwann erzählt Natalie mir, dass sie furchtbare Angst davor hat, ganz allein auf der Welt zu sein. Dass sie, seitdem sie ihre Eltern verloren hat, die Angst nicht los wird, noch mehr Menschen zu verlieren, die ihr nahe stehen. Vor dem Hintergrund erscheint es mir noch beeindruckender, dass sie dieses Album ganz allein erschaffen hat. Sie zog sich in ein Kloster im mexikanischen Chama Valley zurück, und während sie dort Zeit in völliger Stille verbrachte wurde ihr bewusst, dass das der Weg war, den sie gehen musste. Sie hat Mercy alleine geschrieben, aufgenommen und produziert und dabei ein Album erschaffen, mit dem sie ihrem Schmerz und ihrem Glauben Ausdruck verleiht sowie der Hoffnung, die sie aus letzterem schöpft. Es ist eine Reminiszenz an traditionelle Gospel Musik, die wiederum eine der wichtigsten Wurzeln des Rock’n Roll ist. Es ist schrecklich traurig und macht einen gleichzeitig furchtbar glücklich.
Diese beiden Welten zu vereinen, in der Lage zu sein zu akzeptieren, dass Licht und Schatten, Gewinn und Verlust sehr nah beieinander liegen, scheint ein großer Teil von Natalie Bergmans Persönlichkeit zu sein. Während sie von den traurigsten Erfahrungen ihres Lebens berichtet, fängt sie manchmal an zu lachen. Aber nicht als wolle sie versuchen zu verdrängen, sondern mehr wie jemand der gelernt hat, dass das Leben nunmal so funktioniert: das Gute und das Schlechte gehört gleichermaßen zum Leben und sind schwer voneinander zu trennen. Natalie Bergman scheint ihren Frieden damit gemacht zu haben.
Wie geht es dir?
Mir geht es gut! Es ist ein wunderschöner, sonniger Morgen. Ich hatte gestern einen sehr schönen Tag, wir haben gemeinsam mit Freunden eine Performance aufgezeichnet. Wir haben ein Video gemacht, und ich habe den Song zum ersten Mal live gespielt. Ich habe mir heute morgen die Aufnahme angehört und bin sehr zufrieden.
Das ist großartig! Ich finde, ein bisschen Sonnenschein macht im Moment so einen großen Unterschied. Es ist eine komische Zeit, oder?
Auf jeden Fall. Es ist schön, dass du und ich auf diese Weise miteinander sprechen können. Du bist in Deutschland, ich in Los Angeles, das ist doch wunderbar. Aber ich habe ein sehr gespaltenes Verhältnis dazu, wie abhängig wir von dieser modernen Technik sind, von Handys und Computern. Ich habe Sorge, dass wir so auf diese Dinge fixiert sind, dass wir den Blick für die Realität verlieren, dass wir nicht mehr klar sehen und nicht wirklich die schönen Dinge wahrnehmen, die um uns herum passieren. Ich glaube, wir haben alle Momente, in denen wir uns so fühlen. Ich habe das Gefühl, dass die Menschen sich auf diese Weise immer mehr voneinander entfernen. Wir verlassen uns viel zu sehr auf die Bestätigung, die wir uns über Social Media und co holen. Es ist eine verwirrende Zeit. Ich versuche, mich nicht zu sehr auf Social Media zu engagieren. Wie geht es dir damit?
Oh, ich bin da auch hin und her gerissen. Ich verbringe definitiv zu viel Zeit auf Social Media. Aber es interessiert mich auch nicht mehr wirklich, wenn Leute ihren dritten Coffee to go oder das neue Sweatshirt posten, das sie sich gerade gekauft haben. So viele Dinge passieren gerade auf der Welt, ich finde man sollte es wenigstens zum Teil dafür nutzen, einen Standpunkt zu vertreten.
Oder man könnte ein Foto von seinem Hintern posten (lacht).
Das könnte sogar eine Message haben! Hier, nehmt ein Foto von meinem Hintern, ich mag meinen Hintern!
(lacht) Aber es stimmt. Man sollte diese Plattformen für gute Dinge nutzen. Mr. Rogers war so ein gutes Beispiel dafür. Sagt er dir etwas?
Ich muss gestehen, spontan nicht.
Er hatte eine Fernsehshow, „Mr. Roger’s Neighborhood“. Er hat sich sehr für Gleichberechtigung ausgesprochen, für Menschenrechte im allgemeinen, für Kinder, für Menschen aller Herkunft. Er hat Leute in seine Show eingeladen und kleine, verspielte Installationen geschaffen, und immer ging es dabei um Liebe, Freundlichkeit und Zusammenhalt. Er war in den Sechzigern der Einzige, der so etwas gemacht hat. Er hat sich damals all die anderen Fernsehshows angesehen, das war in der Regel Slapstick, die Leute haben sich gegenseitig Torten ins Gesicht geworfen und solche Sachen. Und er meinte: „Das ist nicht das, was ich sehen will. Wenn du in der Position bist eine Fernsehshow zu moderieren, dann solltest du dich für Gleichberechtigung einsetzen! Schwarze Menschen zum Beispiel, die haben überhaupt keine Rechte. Lass uns über Scheidung sprechen! Darüber wird viel zu wenig gesprochen. Was haben Kinder dazu zu sagen?“ Er ist mit Menschen aus der ganzen Welt in Dialog getreten. Er war wirklich ein besonderer Mensch. Sorry, dass ich jetzt hier so lange…
Nein, nein, bitte! Ich finde das toll.
(lacht) Ich liebe es, über Mr. Rogers zu reden. Er war so ein wundervoller Mensch. Einfach weil wir gerade über Social Media gesprochen haben. Wir können es auf politische Weise nutzen oder um Liebe zu verbreiten. Ich würde mein Social Media gerne auf ähnliche Weise nutzen. Ich weiß noch nicht wie das aussehen soll, aber ich denke im Moment viel drüber nach.
Ist es mit Musik nicht genauso? Ich finde, sie muss eine Message haben, voller Emotion und tiefsinnig sein.
Natürlich!
Um direkt auf den Punkt zu kommen. Dein Album ist so wunderschön, ehrlich und bedeutungsvoll. Ich habe gelesen was du durchmachen musstest, und ich kann deinen Schmerz fühlen. Ich teile deinen Schmerz auch, mein Vater ist letztes Jahr an COVID19 gestorben. Und ich bewundere sehr, dass es dir trotzdem gelungen ist, etwas derart Positives und Aufheiterndes zu kreieren. Es strahlt etwas sehr Helles, sehr Kraftvolles aus.
Oh, ich danke dir…
Du hast damit absolut auf den Kopf getroffen, was ich gerade brauche.
Das sind gute Neuigkeiten für mich (lacht). Das mit deinem Vater tut mir sehr leid. Konntet ihr wenigstens zusammenkommen und euch von ihm verabschieden?
Ja, das konnten wir zum Glück. Verrückter Weise habe ich an die Beerdigung meines Vaters gedacht, als ich dein Album gehört habe. Ich habe das Gefühl, dein Glaube ist so anders als der, mit dem ich aufgewachsen bin. Ich bin in einem religiösen Umfeld aufgewachsen, aber für mich hat sich das immer so realitätsfern angefühlt.
Das verstehe ich. Manchmal macht Religion mir Angst. Oder sie schüchtert mich ein, stößt mich ab. Ich meine, historisch gesehen sind in ihrem Namen schreckliche Dinge passiert. Ich habe nie verstanden, wie Menschen im Namen Gottes einen Krieg anfangen können. Für mich ging es immer um eine Botschaft der Liebe. Mein eigener, persönlicher Glaube hat sich schon immer um die Liebe Gottes gedreht. Ich möchte mit diesem Album nicht predigen oder jemandem meinen Glauben aufzwingen. Es ist ein sehr persönliches Statement. Auf diese Weise habe ich den Tod und meine Trauer verarbeitet. Aber ich kann sagen, ich bin tatsächlich in einem sehr religiösen Haushalt aufgewachsen. Nach dem Motto „Liebe Deine Nächsten“. Meine Familie hatte nicht diese Regeln wie „wenn du sündigst, wirst du verdammt“ oder „wenn du das tust, wirst du bestraft“. So war das gar nicht. Es ging uns mehr um grundsätzliche moralische Wertvorstellungen, darum gut zu sein. Man könnte es als biblische Werte bezeichnen, aber ich sehe es eher als eine Art moralischen Kompass. Wo ist mein Herz und wie bin ich ein guter Mensch? Meine Eltern haben ihre Kinder in der Hoffnung erzogen, dass sie gute Menschen werden. Wir waren eine sehr großzügige Familie. Wir haben gegeben, wir haben uns für unsere Gemeinde engagiert, wir haben uns den Menschen angenommen, die Hilfe benötigen. So viele Menschen auf der Welt benötigen Hilfe. Wenn jemand zu dir kommt und dich um Hilfe bittet, dann hast du keine Wahl. Du musst ihnen helfen! Wenn ich Hilfe brauche, erwarte ich das doch auch. Religion hat mir also nicht wirklich Angst gemacht, als ich jung war. Für mich ging es dabei um Musik und Gemeinschaft. Ich bin auch anders aufgewachsen als die meisten Leute in unserer Kirche. Aber dann auch… es ist nicht so, dass ich der Kirche den Rücken gekehrt habe, aber als junge Erwachsene habe ich andere Wege gesucht und mich nicht aktiv in einer Kirche oder Gemeinde eingebracht. Aber ich hatte schon immer einen sehr starken Glauben. Und als ich meinen Vater verloren habe, habe ich meinen Weg zurück zu Gott gefunden. Es war für mich eine Möglichkeit, mich gedanklich wieder dem Glauben zu öffnen und herauszufinden, was er mir bedeutet.
Hast du Angst vor dem Tod?
Oh, der Tod ist furchterregend. Er begleitet mich und zieht sich durch mein ganzes Leben hindurch. Ich habe meine Mutter verloren als ich 15 war und hatte immer schreckliche Angst, meinen Vater ebenfalls zu verlieren. Ich wollte einfach nicht komplett ungebunden sein. Ich bin jetzt 32, ich bin kein Kind mehr. Aber ich fühle mich wie ein Kind, das seine Eltern verloren hat. Ich brauche sie. Als mein Vater gestorben ist, hatte ich furchtbare Angst. Ich hatte noch nie in meinem Leben so schreckliche Angst. Monatelang hatte ich Angst meine Brüder zu verlieren, meine Schwester, jeden Menschen, der mir nah steht. Ich habe so sehr für sie gebetet, ich habe gebetet, dass niemand sie mir weg nimmt. Ich brauche diese Menschen um mich herum. Ausserdem möchte ich selbst leben. Das Leben ist mir so viel wertvoller geworden. Auf eine Art fühle ich diesen starken Drang kreativ zu sein, zu leben. Ich habe angefangen, einen Teil meiner Kunstwerke und literarischer Arbeiten zu archivieren, man weiß ja nie. Ich mag die Vorstellung, dass meine Dinge organisiert sind wenn ich sterbe und man meine Kunst so sehen kann, wie ich es mir vorgestellt habe (lacht). Also ja, ich habe Angst vor dem Tod. Aber ich habe auch ein Verständnis dafür entwickelt, dass unsere Zeit hier auf Erden nicht unser einziges, endgültiges Zuhause ist. Ich glaube daran, dass es ein Himmelreich gibt, in das wir kommen wenn wir sterben. An den Himmel zu glauben gibt mir unglaublich viel Kraft und Trost. Das sieht für mich wahrscheinlich anders aus als für dich oder für jeden anderen. Aber es fühlt sich tröstlich an.
Ich bin so beeindruckt davon, dass du deine Trauer durch Kreativität verarbeitet hast. Ich finde, Trauer kann so schrecklich betäubend sein.
Ich muss sagen, die Trauer hat mich komplett gelähmt. Es hat mich einiges gekostet, dorthin zu kommen. Es hat Monate gedauert. Ich meine, ich verarbeite immer noch. Manchmal fühle ich mich immer noch schrecklich gelähmt und denke: Ich kann heute nicht das Haus verlassen. Ich kann nichts tun, ich habe keinerlei Motivation. Vier Monate lang habe ich die schrecklichsten, düstersten Gedanken durchlebt. Ich war verzweifelt, komplett verloren. Ich konnte überhaupt nicht arbeiten. Eine zeitlang habe ich tatsächlich gedacht, ich könnte nie wieder Musik machen. Ich habe noch nicht einmal mehr geglaubt, dass ich Musikerin bin, ich hatte überhaupt keine Identität. Aber ich habe es geschafft. Wie ist es dir gegangen als dein Vater gestorben ist? Was hast du für Erfahrungen mit deiner Identität gemacht?
Mein Vater und ich hatten immer ein gutes Verhältnis, wir haben uns gegenseitig akzeptiert, waren uns aber nicht besonders nah. Die letzten zwei Jahre bevor er gestorben ist, hatte er rasch fortschreitende Demenz. Es mag komisch klingen, aber während er sich immer schlechter ausdrücken konnte und verwirrter wurde, sind wir uns noch einmal ganz anders nah gekommen.
Wow. Das ist etwas, wofür du dankbar sein kannst.
Ich muss es dir ja nicht erklären, ich bin immer noch am Verarbeiten. Jeden Tag. Ich glaube, wenn sich dadurch etwas an meiner Identität geändert hat, dann dass ich keine Oberflächlichkeit mehr ertragen kann. Ich kann dich nicht fragen: Wann hast du angefangen Musik zu machen?
(Natalie lacht)
Aber es ist wunderschön, sich so mit dir auf Augenhöhe zu unterhalten. Ich liebe dein Album wirklich sehr. Und ich finde es wunderbar, dass es auf Third Man Records erscheint, dass du dort mit deiner Musik ein Zuhause gefunden hast.
Es ist interessant wie du das sagst, dass ich dort ein Zuhause gefunden habe. Genauso fühle ich mich dort und dem ganzen Team gegenüber. Das sind alles wundervolle Künstler*innen und intelligente Menschen. Ich hatte noch nie so eine Unterstützung durch eine kleine Community. Ich war früher bei Columbia Records, ich liebe das Label, sein Erbe und seine Bedeutung und ich habe sehr gerne mit ihnen gearbeitet. Aber bei einem Major Label zu sein ist einfach eine ganz andere Sache. Ich fand es eine ziemliche Herausforderung. Ich bin als Künstlerin noch nie wirklich Kompromisse eingegangen, das war manchmal schon ein bisschen Tauziehen. Third Man Records sind einfach so glücklich mit allem was ich ihnen gebe. Sie haben mir einen sicheren Ort geboten, an dem ich mich ausdrücken kann. Ich liebe das wirklich sehr und ja, ich habe dort ein Zuhause gefunden.
Und weißt du, was ich so furchtbar beeindruckend finde? Du hast dein halbes Leben lang gemeinsam mit deinem Bruder Musik gemacht. Aber dieses Album, das so eine unglaublich persönliche Erfahrung ist, das hast du ganz alleine gemacht. Du hast dich auf die Suche danach begeben, wer du als Künstlerin wirklich bist. Das ist so mutig.
Jetzt muss ich gleich weinen.
Nein, bitte nicht! Dann weine ich auch.
(Natalie lacht)
Aber jetzt gebe ich uns beiden den Rest. Wusstest du, dass heute der 5. Todestag von Prince ist?
Wow. Jetzt sind wir schon so emotional, und gleich sind wir noch emotionaler (lacht). Das passiert! Ich bin ein sehr emotionaler Mensch. Ich kann sehr leicht auf meine Emotionen zugreifen. Es fällt mir schwer, mich abzugrenzen. Wie sagt man so schön, ich trage mein Herz auf der Zunge. Ich glaube, das suche ich auch in anderen Menschen. Ich lasse mir gerne Zeit mit Menschen um sie richtig kennenzulernen, aber ich liebe es auch, wenn sie direkt ihr Herz ausschütten. Ich meine, einen anderen Weg gibt es nicht!
Unser Interview mit Natalie Bergman könnt ihr hier auch im englischen Original lesen.