Marika Hackman: „Es ist viel einfacher man selbst zu sein, als eine Rolle zu spielen“

Marika Hackman hat ihr neues Album „Big Sigh“ bereits veröffentlicht, als wir uns via Zoom treffen, um darüber zu sprechen. Das ist nicht unbedingt selbstverständlich, denn oft, und das ist durchaus verständlich, wollen Künstler*innen, sobald sie ein Album veröffentlicht haben, weiterziehen, sie wollen damit auf Tour gehen und die Songs live spielen. Manchmal arbeiten sie sogar schon an der nächsten Platte. Aber Marika Hackman scheint immer noch gerne darüber zu sprechen, ein weiteres Zeichen dafür, was für ein besonderes Album „Big Sigh“ ist. 

Sie spricht sehr offen darüber, wie schwierig die Pandemie und der Lockdown für ihre Kreativität waren. Die Welt um einen herum geht davon aus, dass man mehr Zeit und Raum dafür haben sollte als je zuvor, aber nichts anderes zu tun zu haben und keinen Input von außen zu bekommen, kann erschreckend und betäubend sein. Depressionen und Angstzustände sind kein guter Ausgangspunkt, auch wenn das gerne entsprechend romantisch verklärt wird. „Es gibt diese Vorstellung, dass man gute Kunst macht, wenn man sich dafür quält“, sagt Hackman. „Aber wenn ich mich ängstlich und deprimiert fühle, kann ich mich zu nichts aufraffen.“ 

Nach einer harten Zeit, in der sie mit der Angst zu kämpfen hatte, dass das Leben, das man sich ausgesucht hat und an das man gewöhnt ist – ein Kreislauf aus Schreiben, Aufnehmen und Touren – auseinanderfällt, ist Marika Hackman mit einem Album zurück, dessen Name für sich selbst spricht. „Big Sigh“ ist ein Album über Angst, Sorgen und emotionale Nöte, aber auch über das kathartische Gefühl, zu erleben, wie die Dinge wieder an ihren Platz zurückfinden. Sie nennt es „die härteste Platte“, die sie je gemacht hat. Vielleicht macht es die Erleichterung darüber, dass sie jetzt draußen in der Welt ist, außerhalb des eigenen Schutzes und der eigenen Kontrolle, leichter, über sie zu sprechen. Am Ende führen wir ein sehr interessantes, ehrliches und fruchtbares Gespräch über die schiere Arbeitsmoral und den magischen Funken, die bei der kreativen Arbeit zusammenkommen müssen, sowie über die Notwendigkeit, dem, was man geschaffen hat Raum und Platz zu geben, und über die emotionale Wirkung, die Musik auf uns haben kann.

„Es ist sehr, sehr befriedigend, diese wahre Ehrlichkeit zu finden.“

Dein Album ist so persönlich und mutig. Ich frage mich immer, wie man das machst. Wie schafft man es, so viel von seinem Herzen und seiner Seele nach außen zu tragen?

Ich glaube, das ist das Ziel, oder? Das ist es, was erfolgreiches Songwriting ausmacht. Es geht darum, eine Verbindung herzustellen und ehrlich zu sein. Es ist sehr schwer, ehrlich zu sein, wenn man kreativ ist, weil man sich so viele Gedanken macht, dass man am Ende an sich selbst zweifelt oder an den falschen Stellen gräbt. Deshalb ist es sehr, sehr befriedigend, diese wahre Ehrlichkeit zu finden, das ist sozusagen das Geheimnis des Ganzen. Ich mag es, verletzlich zu sein, und ich glaube, es macht alles einfacher. Es macht die Arbeit einfacher. Es macht es einfacher, die Songs live zu spielen. Denn es fühlt sich authentisch an, und es ist viel einfacher, man selbst zu sein. Vor allem, wenn man älter wird und mehr über sich selbst lernt. Es ist viel einfacher, man selbst zu sein, als eine Rolle zu spielen. 

Ich bin sehr fasziniert von diesen zwei Seiten des Schaffens. Wie viel davon besteht darin, dass man sich einfach hinsetzt und arbeitet, und wie viel ist dieser „magischer Funke der Inspiration“, der quasi aus dem Nichts kommt? Und wenn man bedenkt, was in den Jahren seit der Pandemie alles passiert ist und was du persönlich durchgemacht hast, muss es eine große Erleichterung sein, dieses Album herauszubringen. Achtung, Wortspiel – ein großer Seufzer!

(lacht) Ja, ein großer Seufzer, genau. Es war eine große Erleichterung, als es fertig war. Jedes Mal, wenn ich einen Song geschrieben habe, war es eine große Erleichterung. Es geht wirklich viel darum, sich einfach hin zu setzen und zu arbeiten. Ich werde keinen Song schreiben, wenn ich draußen ohne meine Gitarre herumlaufe, wenn ich mich nicht mit einem Instrument an meinen Schreibtisch oder mein Bett setze. Selbst wenn ich mit dem Schreiben kämpfe, ist das Mindeste, was ich tun kann, mich hinzusetzen und es zu versuchen, und irgendwann passiert dann etwas. Das ist der knifflige Teil, das ist der magische Teil. Aber der magische Teil ist auch der schwierigste Teil, denn es gibt keinen wirklichen Prozess und keine wirkliche Kontrolle, außer dass man sich dransetzt. Man muss also irgendwie darauf vertrauen, dass es passieren wird. Und dann macht es Klick. Wenn man erst einmal den ersten Funken einer Idee hat und sie niedergeschrieben hat, diese Inspiration, dann besteht die Arbeit darin, den Song fertigzustellen, ihn aufzunehmen, ihn zu produzieren. Man muss sich anstrengen, um aus dem kleinen Faden, das man gefunden hat, etwas zu weben: Das ist der magische Moment. Aber das ist in Ordnung, denn es gibt einen Prozess. Man setzt sich hin und weiß, dass man daraus einen Song machen muss, man versteht, was das bedeutet. Aber wenn man sich hinsetzt und nichts vor sich hat und weiß, dass man etwas aus diesem Nichts erschaffen muss, das ist schon bizarr (lacht).

Und dann, wie weißt du, wann etwas fertig ist? Ich habe das Gefühl, ich würde nie wissen, wie ich zum Schluss kommen soll.  

Ja, das ist eine schwierige Frage, vor allem wenn es um die Produktion geht. Ich denke, ein Song wird dir sagen, wann er fertig ist, er wird sein natürliches Ende haben. Und es gibt bei Songs bestimmte Muster, denen man folgt. Aber wenn es um die Produktion geht, bin ich immer vorsichtig mit dem Überproduzieren. Man will nicht etwas unter zu viel externem Zeug begraben. Und manchmal, wenn man zu lange an etwas arbeitet, ist es sehr schwer zu wissen, wann Schluss ist. Aber ich bin eine große Vertreterin von „weniger ist mehr“. 

Ich finde, dieses Album erschafft eine sehr große Klangwelt. Es gibt sanfte, ruhige und  große Momente und ganz viel dazwischen. 

Ja, ich glaube, ich wollte, dass es sich sehr filmisch anfühlt. Und ich denke, damit es die richtige Dynamik kriegt, mit einem wirklichen Gefühl für Raum, muss man den Hörer*innen früh zeigen, wo die Grenzen dieses Raumes sind. Es gibt Momente, in denen es wirklich nah und persönlich und einfach und ruhig ist, und dann gibt es Momente, in denen es so laut und groß und weit weg ist, dass man dieses Gefühl von Raum bekommt, in den alles hineinpasst. Wenn man also mit einem Stück wie „The Ground“ beginnt, sagt man im Grunde: Das ist der Raum, in dem wir uns in den nächsten 40 Minuten bewegen werden. Es ging darum zu entscheiden, in welche Teile ich hineingehen wollte und dieses Gefühl der Dynamik zu erzeugen. 

Ein bisschen so, als hätte man ein Haus und bewohnt darin all diese verschiedenen Orte…

…und nicht nur einen Raum. Ja. Ich glaube, deshalb gibt es auf dem Cover auch dieses Gefühl der Perspektive, mit den Bergen in der Ferne und dem hässlichen Industriecharakter des Einkaufswagens im Vordergrund. Auch das gibt dem Betrachter ein Gefühl von Raum. Abgesehen von einem Baum gibt es in diesem Raum zwischen den Bergen und der Einkaufswagen nichts, aber es zeigt einem, wo man sich befindet, wenn man die Platte anhört. Denn man muss die Leute in einer Klanglandschaft mitnehmen. Man will ja auch nicht alles in einem Raum unterbringen. Das wäre unglaublich langweilig zu hören, denke ich (lacht).

„Allein ein pochender Herzschlag bringt für mich etwas auf den Punkt“

Neulich habe ich mich mit einer Freundin darüber unterhalten, was uns als Erstes anspricht, wenn wir Musik hören. Für mich ist es der Beat, für sie die Melodie. Wir haben uns dann in die Kategorien „Heartbeat-Girl“ und „Heartstrings-Girl“ eingeteilt. Ich musste daran denken, als ich mir deine Platte angehört habe, und ich hatte das Gefühl, dass du irgendwie beides bist.

(lacht) Ja! Ja, ich denke, ich versuche, beides zu sein. Das ist eine schöne Art, es auszudrücken, „heartbeat“ oder „heartstrings“. Ich glaube, wenn ich schreibe, liegt mein Fokus auf den „heartstrings“. Denn es geht um diese erste, ursprüngliche Melodie oder den Zusammenprall von Harmonien, die eine Art Faszination erzeugen, aber auch dieses Gefühl im Bauch, diesen Knoten im Bauch. Und natürlich kann man das mit Texten verstärken. Das Zusammenspiel zwischen dem Text und der Melodie: Sie können sich gegenseitig anspornen und beflügeln. Das ist das Schöne daran, wenn man beides zusammen hat. Aber auch  Schlagzeug und Rhythmus sind etwas, das mich schon immer sehr angezogen hat. Ich habe schon als Kind Schlagzeug spielen gelernt. Das war, bevor ich überhaupt eine Gitarre in der Hand hatte. Allein ein pochender Herzschlag bringt für mich etwas auf den Punkt. Er gibt einem ein Gefühl dafür, wo man sich befindet, und macht es weniger zu einem schwebenden Erlebnis. Er holt es in die reale Welt, in der wir existieren, in unsere Körper. Rhythmus reflektiert Geräusche, die unser Körper macht, unsere Schritte, unseren Herzschlag. Wenn ich über die Produktion und das Schreiben nachdenke, geht es darum, dass die verschiedenen Teile sich gegenseitig ergänzen, damit sie eine größere Wirkung haben. Ach, ich bin sehr froh, dass du gesagt hast, ich sei eine Kombination aus beidem, denn das ist für mich das Nonplusultra. 

Es ist wirklich interessant, wie du beschreibst, dass es ein Teil unseres Körpers ist. Ich erinnere mich nämlich daran, dass ich während meiner ersten Schwangerschaft kaum Musik hören konnte. Ich hatte das Gefühl, dass es in meinem Körper keinen Platz mehr für Musik gab.

Das ist sehr interessant. Ich vermute, man ist dann so sehr auf sich selbst eingestellt, dass alles andere einfach zu viel ist. 

Ja, wahrscheinlich. Allein Lautstärke war für mich ein Problem. Normalerweise liebe ich laute Musik, aber über Kopfhörer konnte ich nichts hören, und ich musste die Leute immer bitten, die Musik leiser zu drehen.

Um ehrlich zu sein, ich bin immer so (lacht), schon seit ich ein Kind war. Ein bisschen verkehrte Rollen, ich habe meinen Eltern immer gesagt, sie sollen abends die Musik leiser stellen. Wenn ich einen Beat höre, kann ich mich nicht dagegen wehren, weil ich nicht abschalten kann. Und ich hasse laute Musik. Wenn wir Freunde zum Abendessen da haben und Musik läuft, kann ich mich nicht auf das konzentrieren, was die Leute sagen. Ich finde Musik im Hintergrund so ablenkend, sie beeinflusst mich zu sehr. Ehrlich gesagt höre ich gar nicht so viel Musik, weil es mir schnell zu viel wird. Das ist interessant, denn ich mache sie ja selbst. Aber das fühlt sich eher wie ein Output an, als ein Input. Vor allem mit Lärm bin ich sehr schnell überfordert. Das stresst mich wirklich (lacht).

Ich finde, das macht schon Sinn. Man hat vielleicht eine so starke emotionale Bindung zu etwas, dass man es durch das Schaffen besser verarbeiten kann als durch den Konsum. 

Das stimmt. Als wir Kinder waren, hat meine Mutter mich und meinen Bruder immer zur Schule gefahren. Sie haben im Auto Musik gespielt, und das hat mich emotional wahnsinnig s berührt. Ich habe das so stark gespürt, dass ich sagen musste, dass ich bestimmte Lieder auf dem Weg zur Schule nicht hören kann, weil es mich zu sehr angestrengt hat (lacht). Es ist auch verrückt, denn das ist es, was ich jetzt mit dem, was ich mache, versuche zu erreichen. Das ist mein ultimatives Ziel, Musik zu machen, bei der die Leute sich genau so fühlen. Aber ich selbst finde es wirklich schwierig. Zumindest ging es mir so, als ich 15 war. Seltsam. 

„Es ist emotionale Belästigung!“

Es ist seltsam, aber es ist auch ein so schönes Zeugnis für die Kraft der Musik. Es gibt dieses s Video von Pedro Pascal, in dem er darüber spricht, wie es ihn buchstäblich angreift, wenn „Purple Rain“ im Hintergrund in einem Supermarkt läuft. Weil es ihn emotional so sehr berührt. Wie kann man dieses Lied in der Öffentlichkeit spielen, wenn die Leute einfach nur einkaufen wollen?!

(lacht) Es ist emotionale Belästigung!

Das ist es! Und ich finde, es macht viel Sinn, dass du so fühlst, wenn man sich ansieht, was du mit deiner Musik erschaffst. 

Ja, es ist seltsam. Es gab Zeiten, in denen ich mir die Platten, die ich gemacht habe, wieder angehört habe. Ich denke, es ist kathartisch, ich weine dann und so. Und manchmal ist es auch die pure Erleichterung, die Ziellinie zu überqueren. Wenn man seine eigene Musik macht, gibt es noch so viele andere Dinge, die man erledigen muss. Da ist die ganze Reise, die man hinter sich hat, die Kämpfe und alles andere. Dieses Gefühl, dass man es geschafft hat, kombiniert mit dem eigenen emotionalen Output. Das ist ziemlich intensiv. Aber ich liebe es: Je intensiver es ist, desto mehr denke ich, dass ich es geschafft habe, Musik zu machen, mit der man sich wirklich verbinden kann. 

Fotos © Steve Gullick

Tourdaten:

11.04.2024 Berlin, Hole 44 

12.04.2023 Hamburg, Molotow 

14.04.2023 Köln, Artheater

Das Interview ist hier im englischen Original erschienen.

https://marikahackman.com