LP im Interview: „Es ist nicht das Ende der Welt, wenn etwas zu Ende geht“

Evoto

LP hat an diesem Tag ganz schön auf sich warten lassen. Erst war der Flug verspätet, dann Stau auf dem Weg in die Stadt. Als mir nach einer guten Stunde gesagt wird, LP sei nun angekommen und müsse sich noch kurz sammeln, frage ich mich, wie es sich anfühlen muss, gerade in einer Stadt angekommen zu sein und sofort in einen Raum geworfen zu werden mit einem völlig Fremden, mit dem man über seine Arbeit reden soll. LP ist auf jeden Fall müde und bedient sich großzügig an dem bereit gestellten Vorrat an Red Bull, aber es liegt direkt so etwas in der Luft das verspricht, das hier könnte ein Spaß werden. 

LP ist auf dem Weg, das sechste Studioalbum „Love Lines“ zu veröffentlichen und lässt es sich dabei, wir kommen immer wieder darauf zurück, so richtig gut gehen. Wir reden viel über Freiheit, springen von Thema zu Thema, weil das einfach mehr Spaß macht, als stur einen Fragenkatalog abzuarbeiten. Wir reißen Witze und lachen viel. Ich gestehe, dass LPs Frisur für mich wichtige Meilensteine der Popmusik verkörpert – Prince, Matty Healy, die junge Peaches. Auf dem Weg zum neuen Album hat LP einen Weg gefunden genauso zu sein, wie LP sein will – als Mensch wie als Künstler*in.

Bist du wirklich gerade eben erst angekommen?

Ja.

Von wo bist du gekommen?

Aus London. Ich war die ganze Nacht wach. Ich hatte ein Date (lacht)

Ich hoffe, es geht dir jetzt trotzdem gut?

Oh ja. Es geht mir sehr gut. Es geht mir fast ein bisschen zu gut. Ich mache mir selbst ein bisschen Angst (lacht).

Ich finde es großartig, dass du da bist. In Zeiten des Zooms trifft man ja nicht mehr so oft Künstler*innen persönlich. 

Ganz ehrlich, ich weiß gar nicht, warum zum Teufel ich hier bin. Warum verdammt nochmal musste ich um fünf Uhr morgens einen Flug nach Berlin nehmen? Ich weiß es nicht. Irgendeinen Grund wird es geben. Wahrscheinlich eine Radio Sache. 

Ich dachte, vielleicht konntest du es nach der Pandemie nicht abwarten, wieder zu reisen. 

Oh Jesus, nein. Ich habe Ende 2021 wieder angefangen zu touren. Ich habe zu den ersten Bands gehört, die wieder in Europa waren. Das war verrückter Scheiß. Ich bin viel gereist. Ich gehe einfach dorthin, wo sie mich hinschicken (lacht). Aber es ist gut. Ich bin froh drüber. Es fühlt sich richtig an. 

Also, wie ist es dir ergangen seit deinem letzten Album?

Gut! Dieses Album hier hat mich völlig überwältigt. Es ist so schnell aus mir rausgekommen. Ich habe erstmals mit anderen Leuten zusammengearbeitet, so eine Art Pandemie-Buddies. Ich kannte sie, aber nicht besonders gut. Ich habe eine Trennung durchgemacht. Zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren bin ich wieder Single. Aber ja, ich habe zur Abwechslung allein gelebt und so viele neue, unterschiedliche, enge Freundschaften geknüpft wie schon lange nicht mehr. Auf Tour zu sein kann sehr isolierend sein. Wenn du in einer Beziehung bist und gleichzeitig auf Tour, kann das sehr isolierend sein. Es war nicht so, dass ich mit diesen Leuten nicht schreiben wollte, ich habe es aber auch nicht wirklich versucht, weil ich ein bisschen Angst davor hatte. Nein, ich hatte keine Angst, aber ich habe auch nicht darauf gedrängt mit Freunden zu schreiben, weil ich nicht wollte, dass es nicht gut wird. Aber dann haben wir angefangen zu schreiben, ganz nebenbei, für jemand anderen, und das ist richtig gut geworden. Dann habe ich einen Trip zu den Kaimaninseln gemacht. Ich hab’s halt gerne extravagant, wenn ich schreibe (lacht).

Oh, darüber habe ich gelesen und gedacht, das klingt so gut. 

Ich weiß, ich tue immer so von wegen: „Ist mir doch alles egal“. „Aber möchtest du vielleicht an einen extravaganten Ort fahren?“ „Ach ja, will ich.“ (lacht) Ich gehe verdammt nochmal überall hin, wo ich hin will! Wie auch immer, ich bin also auf die Kaimaninseln gefahren, es war großartig, ich habe verdammt viele scheiß nochmal großartige Songs geschrieben, bin nochmal sechs Wochen auf Tour gegangen, war dann in Palm Springs und habe noch mehr Songs geschrieben. Und jetzt sitze ich hier und dränge anderen Leuten meine Musik auf (lacht). Aber nein, es fühlt sich gut an. Dieses Album fühlt sich sehr frisch, frei und leicht an. 

Interessant, dass du das sagst. Denn genau das habe ich gedacht, als ich es gehört habe. Deine Musik war ja schon immer sehr frei und hat alles und jeden mitgenommen. Aber irgendwie klingst du hier freier denn je. 

Ich fühle mich sehr frei. Ich bin frei. ICH BIN FREI! Man muss sich selbst frei lassen. Ich glaube, was Beziehungen angeht, habe ich viel auf dem Altar meiner Karriere geopfert. Es fühlt sich gut an, keine Person um mich zu haben, die auf mich wartet. Oder auf die ich warte. Ein*e umherziehende*r Musiker*in zu sein, kann sehr einsam sein. Selbst wenn man immer viele Menschen um sich hat. Ich muss sagen, ich finde es ist sogar einsamer, wenn man eine Beziehung Zuhause hat, weil man dann nicht mit der Person zusammen sein kann. Man kann nicht zusammen und intim miteinander sein. Ich glaube, ich habe einfach den Punkt überschritten, an dem ich nicht mehr zu einer anderen Person sagen konnte: „Ich vermisse dich, Baby…“ Jetzt sage ich es halt zu sieben verschiedenen Personen gleichzeitig (lacht). Es ist alles super offen und ehrlich. Ich genieße meine Freundschaften und die Menschen, für die ich singe. Dieses Album fühlt sich an wie ein weiteres Zimmer im Haus von LP (lacht). Ehrlich gesagt verdient es einen kompletten eigenen Flügel. Es fühlt sich an wie ein Tritt nach oben. Meine Fähigkeit mit Worten umzugehen, meine Poesie hat sich einen Tick nach oben entwickelt, hoffe ich. Denke ich. 

Ich muss an Vieles denken bei diesem Album. Dusty Springfield zum Beispiel.

Oh, nice. Das ist cool.

Ein bisschen kitschiger Sechziger Jahre Vibe, das liebe ich. Und dann ist da „Love Song“, wir sind plötzlich in den Achtzigern und ich möchte meinen Aerobic Anzug anziehen (LP lacht). Ich finde es immer wieder erstaunlich, wieviel Wärme es der Musik gibt, wenn man diese alten Referenzen reinbringt und sie gleichzeitig neu interpretiert. 

Ich habe sehr viel Cat Stevens gehört, als wir mit den Sessions angefangen haben. Ich hatte nie wirklich das Gefühl, dass ich so Linda Ronstadt Shit mache, aber dieses Album fühlt sich ein bisschen nach Linda Ronstadt an. 

Ein bisschen Dolly Parton Herzschmerz-Songs. 

Ein bisschen Dolly Parton, auf jeden Fall. Ein bisschen Roy Orbison. Den Song „One Like You“, den haben wir in der Nacht geschrieben, als Ronnie Spector gestorben ist. Wir haben es nicht absichtlich gemacht, wir waren nur so waaaaahhh… ihr Geist schwebte auf jeden Fall im Raum. 

Oh, ich muss dir etwas erzählen. Als ich mir dein Video zu „Golden“ auf YouTube angeschaut habe, waren die Untertitel an. Und zu Beginn, beim Intro, bevor die Lyrics los gehen, stand dann dort „quirky music“. 

„Quirky music“? Das. Ist. Lustig. 

Würdest du dem zustimmen?

Nein, ich würde YouTube verdammt nochmal eine reinhauen. „Quirky“… es ist ein wunderschönes, komplexes Riff! Verdammte Idioten. Quirky Music… Lasst die Künstler*innen mal ihre Musik schreiben und haltet euer Maul. Ihr könntet auch einfach „Pupsgeräusche“ hinschreiben. Quirky Music… (lacht). 

Zur Beruhigung, lass uns ein wenig auf deine Timeline schauen. Dein Album „Churches“ kam 2021 raus. Das war ja noch mitten in der Pandemie.

Ja. Es war Ende 2021. Aber ich hatte die ganze Zeit schon Singles veröffentlicht. Es war eine seltsame Zeit. Ich habe sechs verdammte Singles veröffentlicht. Es gab ja nichts, was man tun konnte, was sollte ich sonst tun? Es war die einzige Möglichkeit in der Zeit, die Leute zu erreichen. Um ehrlich zu sein, für mich fühlt sich der Abstand zu diesem Album jetzt kurz an. Die Leute waren so: „Ich habe so auf neue Musik von dir gewartet.“ Und ich: „Was zum Teufel meinst du mit warten? Das Ding ist gerade mal seit einem Jahr draußen.“ Für mich war das schnell. 

Wenn ich Interviews wie dieses hier mache, bei denen ich das Album so weit im Voraus bekomme, wird mir immer bewusst, was für ein langer Prozess es ist. Wieviel Zeit man mit einem fertigen Album verbringt, bis es endlich erscheint. Wie lernt man loszulassen, zu wissen, wann es wirklich fertig ist?

Ich habe das Gefühl, ich weiß es einfach. Ich wusste es, als wir die erste Session auf den Kaimaninseln hatten, dass ich so gut wie fertig bin. Ich dachte, ich brauche nur noch eine Session, um zu sehen, ob ich etwas besser machen oder ergänzen kann. Ich habe nichts geändert, nur ergänzt. Auf der Deluxe Version sind 15 Songs, sie wird Anfang nächsten Jahres rauskommen. Ja, alles hat sich einfach gut angefühlt. Ich wollte erst alles auf das Album machen, aber dann haben wir uns für eine Deluxe Version entschieden. In Ordnung. 15 Songs sind viel für einen ersten Release. Ich glaube nicht, dass viele Leute sich 15 Songs hintereinander anhören wollen. 12 sind genug. Und wenn die dir wirklich gefallen, kannst du dir den Rest anhören (kichert). 

Verstehe ich. Persönlich mag ich lange Alben. 

Tust du? Cool. Was ist dein liebstes langes Album? 

Ich glaube, das geht zurück bis in meine Kindheit. Ich mochte schon immer Doppel-Vinyls. Heute bin ich da ein bisschen faul geworden, weil man so oft die Seite wechseln muss. 

Ja (lacht).

Ich war schon immer großer Prince Fan. Eins meiner Lieblinga-Doppelalben wird immer „Sign o‘ the Times“ sein. 

Gute Wahl. 

Man kann so viel besser eine zusammenhängende Geschichte mit einem langen Album erzählen. 

Ja, man begibt sich mehr in die Welt der Person. Es kommt auf den/die Künstler*in an und die Stimmung. Es ist aber schwieriger, nur Top Songs auf einem langen Album zu haben.

Fleetwood Mac. Für mich ist jeder Song auf „Tusk“ ein Hit. 

Jeder Song auf „Tusk“ ist ein Hit? Ich weiß nicht. Ich muss mich auf die Couch legen und darüber nachdenken. 

LP legt sich auf die Couch, die Eiswürfel im Red Bull Glas klimpern, die Füße in schwarzen Stiefel liegen auf der Armlehne. Wir plaudern ein bisschen über Fleetwood Mac, LP scherzt, dass wir in die Tiefe gehen, jetzt, da man bereit für die Analyse auf der Couch liegt. Ich muss sagen, es hat sich noch nie jemand während eines Interviews vor mir auf die Couch gelegt. Aber zu diesem Zeitpunkt habe ich mich daran gewöhnt, dass LP ein spezieller Charakter ist. Es macht Spaß.

Ich mag das Video, das ihr zu „Golden“ gemacht habt. 

Ah, vielen Dank. Ich habe überlegt, ob man versteht, dass all die Frauen Erinnerungen sind? Oder bin es nur ich in einem Haus voller Frauen? Auch nicht schlecht. Ich stelle mich immer gerne als Hengst dar. Yay! Warte, bis du das nächste Video siehst. Es ist ein gutes Video geworden. Stephen Schofield, der Regisseur, sein erstes Treatment war ich, wie ich Leichen in Gold zeichne. Ich meinte: „Buddy, bei Leichen hast du mich verloren.“ Kannst du dir das vorstellen? Leichen, Junge! Wie bitte? (lacht) „Golden“ ist ein einfacher Song. Aber ich finde, er ist in seiner Einfachheit auch komplex. Es ist nicht einfach nur heiße Luft, nach dem Motto (quietscht) „Sei glücklich! Sei golden!“ Man muss sich nicht selbst quälen. Ich habe mir nach jeder Beziehung Vorwürfe gemacht. Jedes einzelne Mal, viel zu lang. Ich würde damit gerne aufhören (lacht). Ich meine damit nicht, dass einem alles egal sein soll. Einfach nur nicht… weißt du, Dinge enden einfach. Und das ist okay. Es ist nicht das Ende der Welt, wenn etwas zu Ende geht. 

Kennst du das Konzept vom positiven, negativen und neutralen Geist? Der positive und der negative Geist sind ständig mit allem und jenem verbunden, beurteilen und ordnen ein. Der neutrale Geist wird aktiv, wenn du einen Schritt zurücktrittst und bewusst das große Ganze betrachtest. Vielleicht meinst du das. Es kann in solchen Situationen auf jeden Fall hilfreich sein. 

Ja. Ich glaube das ist es, was ich versuche. Ich hatte einfach so viele Beziehungen, bei denen ich im Nachhinein dachte, verdammt, ich hätte mir mal ein bisschen Zeit zwischen den beiden lassen sollen. Ich fürchte, ich habe eine Menge Beziehungen ruiniert, weil ich entweder direkt reingesprungen bin oder weil sie sich überschnitten haben. Jetzt konnte ich darüber schreiben. Ich habe viel geschrieben darüber, wie es von jetzt an weitergehen soll. Habe ich irgendetwas versäumt? Hab ich’s verkackt? Der Song „Big Time“ handelt davon. Wenn du schreibst, entwirfst du Szenarien, die vielleicht so passiert sind, oder auch nicht. Ich weiß nicht, es ist eine kreative Spielwiese. Also komme ich wieder zu dem Wort „frei“ zurück. Ich fühle mich sehr frei, diese Dinge zu erforschen. Ich erinnere mich… (kichert) meine Exfreundin und ich, wir standen kurz vor der Trennung und sie meinte zu mir: „Worüber wirst du jetzt wohl schreiben?“ Und ich meinte: „Über mich!“ (lacht) Eine Menge guter Leute haben mich beschuldigt – okay, beschuldigt ist vielleicht ein hartes Wort – sie haben zu mir gesagt: „Du bist doch nur in Beziehungen, damit du darüber schreiben kannst.“ Genau, das ist das Erste, was ich im Kopf habe. Ich ficke mit dir, und dann schreibe ich darüber. 

Ernsthaft, dein Album klingt so, als hättest du die beste Zeit und du wirkst so, als hättest du die beste Zeit.

So wirke ich auf dich? Das ist schön. 

Ich habe mir vorher diese Zeile aus „Golden“ notiert: „Don’t get broken before it gets beautiful.“ Das ist so eine tolle Zeile.

Danke.

Sie erinnert mich an Menschen, die ich auf dem Weg viel zu jung verloren habe. Heute, wenn ich mit jungen Menschen zu tun habe, möchte ich ihnen immer sagen: es klingt vielleicht cheesy, aber es wird leichter mit der Zeit.

Ich habe eine Weile überlegt, ob die Zeile nicht „we’re all broken before we get beautiful“ heißen sollte. Das fand ich auch gut. Aber „don’t get broken before it gets beautiful“ war das Erste, was aufkam und ich habe beschlossen, dass mir das gefällt, nachdem ich mich mit der anderen Version eine Weile beschäftigt hatte. Wie du sagst, ich habe gerade die beste Zeit. Denn das hier, das bin ich in meiner wahrsten Form. Ich habe sie erfunden (lacht). Aber das tun wir schließlich alle. Und ich fühle mich von innen genauso. Es ist ein gutes Gefühl, wenn beides zusammenpasst. Aber es war eine ziemliche Reise. 

Wir sind am Ende also tatsächlich in die Tiefe gegangen. Zum Abschied machen wir ein Foto, und LPs Crew scherzt hinterher, wir hätten das Foto vielleicht im Hotelzimmer auf dem Bett machen sollen. Da ist so eine leicht schlüpfrige Attitüde, die LP umgibt, aber es fühlt sich nie so an, als würde eine Grenze überschritten. Es ist eine Attitüde, die mit den Jahren gewachsen ist und sicherlich vom Kampf gegen äußere Beurteilung und innere Unsicherheiten befeuert wurde. LP hat spürbar den Drang überwunden, es allen recht machen zu wollen und hat jetzt, in der Tat, die beste Zeit. Ein paar Stunden später, als ich unser gemeinsames Foto auf Instagram poste, dankt LP mir für die schöne Unterhaltung. Es ist schon ein Spaß, auf LPs „Love Lines“ zu wandern. 

„Love Lines“ von LP erscheint am 29. September 2023.

Foto © Ryan Jay