Wir haben doch alle diese Themen, über die wir gerne zu viel reden, besonders wenn es schon spät ist, oder? Einer meiner Favoriten diesbezüglich ist: warum sind Broken Social Scene eigentlich nicht viel, viel bekannter? Die kanadische Band hat natürlich ihre Fans, und wenn man ein bisschen nachhakt gibt es ein paar Songs, die viele Leute dann doch kennen. Aber wer weiß schon, wie revolutionär „You Forgot It In People“, das 2003 erschienene Durchbruch-Album, für die Indie-Rock-Szene tatsächlich war? In meinen Augen, zumindest. Es ist ein bisschen so, als hätten Broken Social Scene den Weg geebnet und wären dann galant zur Seite getreten, um viele nach ihnen kommende Indie-Bands an ihnen vorbeiziehen zu lassen. „Nun, wir sind jetzt eine ‚ältere Band'“, grinst Broken Social Scene Frontmann Kevin Drew, als wir über Zoom miteinander sprechen. Er sitzt in Toronto in seiner Küche, trinkt Kaffee und wirkt von dieser schreienden Ungerechtigkeit weit weniger berührt als ich.
Es ist nicht das erste Mal, dass ich ihn in seiner Küche sitzen sehe. Im Prinzip haben wir uns 2014 so kennengelernt, als er sein Soloalbum „Darlings“ veröffentlichte und ich ihn über Skype Zuhause besuchen durfte, um mit ihm darüber zu reden. Er ist die Sorte Mensch, mit der man die Sorte Unterhaltungen hat, die gerne mal den Rahmen sprengen. Damals hatten wir ein Zeitfenster von 30 Minuten, es wurde eine Stunde daraus, und als wir beide schließlich wirklich los mussten, haben wir noch darüber gescherzt, auf Facetime umzuschalten und so weiter zu machen. Ich liebe solche Gespräche, bei denen man sich wirklich aufeinander einlässt, weit über das klassische Frage-Antwort-Spiel hinaus. Gleichzeitig muss man sich daran erinnern, dass diese Art von Verbindung in der Regel auf die halbe Stunde begrenzt ist, die man miteinander hat. Wie oft habe ich Künstler*innen getroffen, die einen ganzen Tag in einem Raum eingepfercht verbringen und bis zu zehn Journalist*innen am Tag treffen, und ich habe immer großen Respekt davor, wenn sie es schaffen, dir trotzdem ihre volle Aufmerksamkeit zu widmen. Ich bin deshalb auch nie enttäuscht, wenn man sich nicht an mich erinnert, wenn man sich ein zweites oder auch drittes Mal begegnet. Aber manchmal passiert es doch.
So wie bei Kevin Drew, dem ich 2017 beim Primavera Sound Festival in Barcelona wieder begegne, als Broken Social Scene eines ihrer seltenen Europa-Konzerte spielen. Es stellt sich heraus, dass wir beide uns sehr positiv an unsere Küchenunterhaltung erinnern. 2018 sitze ich dann in Bristol mit einem Teil von Broken Social Scene nach ihrem Konzert bei einem kleinen Italiener, bei gutem Essen und noch besserem Wein, und wir unterhalten uns angeregt über Musik, die wir gerade gerne hören. An dem Abend erzählt Drew mir, dass er gerade besessen ist von Electro-Künstler*innen wie Jon Hopkins, besonders von dessen Song „Luminous Beings“. Er hatte schon immer eine große Leidenschaft für Soundtracks und Instrumentalmusik, und der Grund warum wir dieses Mal über Zoom sprechen ist, dass er die Pandemie genutzt hat, um ein neues Soloalbum aufzunehmen. „Influences“, das er unter dem Alter Ego K.D.A.P. veröffentlicht hat, ist ein instrumentales Electro-Album geworden.
Es gibt diverse Gründe dafür, wie es dazu gekommen ist. „Ich hatte nicht wirklich das Bedürfnis, Songs im traditionellen Sinne zu schreiben“, erzählt Drew mir. „Wenn ich mir ansehe, was in der Welt gerade alles passiert, dann gibt es nicht viel, was ich zu sagen habe oder sagen möchte.“ Er betont immer wieder, dass Instrumentalmusik für ihn der direkteste Weg ist Gefühle auszudrücken ohne Worte benutzen zu müssen, und anders herum löst sie beim Hören Emotionen aus, ohne mit Geschichten abzulenken. Sie spiegelt direkt einen Zustand und ein Gefühl wider, das nur mit einem selbst zu tun hat, wie ein Soundtrack zum eigenen Leben. Er erklärt es so: „Instrumentalmusik war für mich schon immer eine wunderbare Art von ‚choose your own adventure‘. Man kann sie einfach in sich aufnehmen und daraus machen was man will.“ Immer auf der Suche nach Wegen sich neu auszudrücken, stolperte er zufällig über die Musik-App „Endless“ und war sofort hin und weg. Er spricht so begeistert über die App, dass er immer wieder betont, er habe keinen Werbevertrag mit den Entwicklern. „Ich dachte verdammt – das macht Spaß!“ lacht er. „Ich habe sofort gefühlt dass es ein Instrument ist, mit dem ich intuitiv und impulsiv die Hooks und Melodien erschaffen kann, die ich mag. Es hat mir eine Möglichkeit gegeben mich auszudrücken, die ich so noch nicht kannte. Ein neues Instrument zu entdecken bringt immer diese Unschuld mit sich: was ist das? Wie funktioniert es?“
Ein Album komplett mit einer Smartphone App aufzunehmen, mag manchem wie der letzte kreativer Verrat schlechthin vorkommen, aber Drew sieht das anders. „Ich glaube mit diesen neuen Apps kann man die Kunst am Leben halten. Stell dir mal vor, man würde das in Schulen nutzen, in Gefängnissen, in Gemeindezentren… wo man die Menschen dazu bringen kann, sich einzubringen. Man braucht nicht viel dafür, und man gibt den Menschen eine Möglichkeit, sich auszudrücken. Es ist so schwer, sich in all dem Lärm selbst zu finden.“ Und natürlich funktioniert keine App ohne ihre Nutzer, es liegt an dir, was du daraus machst. „Es geht immer um die Person, die sie nutzt,“ sagt er. „Du brauchst immer noch ein Gefühl für Melodien und Hooklines. Du hast immer noch die Verantwortung dafür, was du für Rhythmus hältst.“
Hooks und Melodien, darum geht es hier. Gemeinsam formen sie eine Welt, die sehr typisch Kevin Drew ist, unabhängig davon, auf welche Art er sie umsetzt. „Influences“ lässt sich am besten als elektronische Musik bezeichnen, obwohl das Album auch analoge Elemente enthält. Die Songs fügen sich logisch in den musikalischen Kosmos ein, den er zusammen mit Broken Social Scene geschaffen hat, auch wenn so mancher von der Umsetzung irritiert sein mag. „Oh, ich habe das Album einem Freund geschickt, der kaum erwarten konnte es zu hören, und am nächsten Morgen wache ich auf und habe die Nachricht: Scheiße, ich hasse es!“ lacht er. „Es gibt also definitiv Leute, die nichts damit anfangen können.“
Nun, man kann es nicht allen recht machen, aber selbst Drew, dem es sehr um Gemeinschaft und Freundschaft geht, scheint sich darüber nicht allzu sehr aufzuregen. Er freut sich, seine Musik einem Kreis von Freund*innen und Hörer*innen zugänglich zu machen, oder, wie er es beschreibt, allen, „die gerne Kräutertinkturen nehmen, Marihuana rauchen oder einfach nur abhängen und chillen wollen“. Wir haben schon früher darüber geredet, und es ist mehr als deutlich, dass er nicht mehr besonders viel Interesse daran hat, die große Masse zu erreichen. Vielleicht, denke ich heimlich, sogar ein bisschen zu wenig. Einerseits gerät er in große Begeisterung über eine Musik-App, gleichzeitig hadert er sehr mit den modernen Wegen, sich als Musiker*in zu vermarkten und wie er selbst dort hinein passen könnte. „Alles was ich mache, sehe ich auch mit den Augen von Broken Social Scene. Mich interessiert, wo das alles hinführen soll. Was ist neu? Wenn es TikTok und all diese Sachen sind, dann passen wir da nicht wirklich rein. Und wenn du versuchst in etwas hineinzupassen, wo du nicht wirklich hineinpasst, dann wird es kompliziert. Vielleicht passt du hinein, aber man sieht dir an, dass du es zu sehr versuchst. Und sobald du etwas zu sehr versuchst, dann gibst du die reine, intuitive Freiheit auf, die es bedeutet, Kunst zu machen. Als würdest du etwas hinterher jagen.“
Ich verstehe seinen Zwiespalt, aber (und ich hoffe er vergibt mir, wenn ich das so offen sage) ich glaube, die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Vielleicht gibt es auch Wege, diese neuen Technologien so zu nutzen, dass sie zu einem passen, auch als „ältere Band“? Genauso wie Kevin Drew überraschend festgestellt hat, dass eine App all seine Bedürfnisse als Künstler befriedigen kann. Eine Band wie Broken Social Scene einem größeren, vielleicht auch jüngeren Publikum nahe zu bringen muss ja nicht zwingend bedeuten, lustige Tanzvideos für TikTok zu machen (was in diesem Fall tatsächlich eine sehr seltsame Vorstellung ist). Für „Influences“ hat er eine Reihe von Videos auf Instagram gepostet, in denen er selbst gemachte Visuals mit Texten über Kreativität, den menschlichen Körper und das Leben im Allgemeinen verbindet – und damit alles sagt, was er auf „Influences“ bewusst verschwiegen hat. Das funktioniert großartig und ist sehr typisch Kevin Drew. Egal wie ich es drehe und wende, ich komme immer wieder zurück zum Anfang: viel mehr Menschen sollten Broken Social Scene kennen. Und ich hoffe, dass „Influences“ seinen Weg zu den Hörer*innen findet, auch wenn Drew selbst sich darüber nicht allzu viele Gedanken macht. „Es gibt so viel Musik da draußen! Mehr als 3000 neue Songs am Tag!“ ruft er irgendwann, und es ist schwer zu sagen ob er sich Sorgen macht um seinen eigenen Platz in all dem, oder ob er tatsächlich einfach nur glücklich damit ist, seine Musik nach draußen zu schicken und es mehr oder weniger dem Schicksal zu überlassen, ob jemand sie findet. „Ich habe damit angefangen, Musik für Freunde und Wegbegleiter zu machen, und es fühlt sich an als würde der Kreis sich schließen, wenn ich das jetzt wieder mache,“ sagt er. Ich glaube ihm, dass er tatsächlich so fühlt und freue mich, dass er uns seine Musik schenkt.
Manchmal witzeln wir darüber, wie alt wir uns fühlen, wenn wir uns all die großartigen Musiker*innen, Künstler*innen und Journalist*innen ansehen, die inzwischen so viel jünger sind als wir. Aber während wir uns unterhalten, habe ich das Gefühl, dass Kevin Drew auf eine Art zufriedener wirkt denn je, obwohl wir uns mitten in einer globalen Pandemie befinden, die besonders Künstler*innen hart trifft. Er spricht viel darüber was ihm Sorgen bereitet: der Zustand der Welt, natürlich („Der größte Sieg, den die Regierungen und Großkonzerne errungen haben ist, das sie unsere Gesellschaft gespalten haben – wir bekämpfen uns gegenseitig.“), das Problem Social Media („Es ist schwierig, die ganze Zeit an seinem Telefon zu sitzen und sich nicht einsam zu fühlen. Man wird zum Voyeur und beobachtet das Leben nur noch.“) Und manchmal sagt er Sachen wie „das ist wie Hirnfrost, der mich mitten ins Herz trifft“, wo ich mir nicht ganz sicher bin, was er damit sagen will. Aber in einem ist er ganz eindeutig: auch wenn er in den letzten Jahren mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte, hat er überhaupt kein Problem mit dem älter werden. „Ich liebe es, älter zu werden. Ich weiß nicht wie es dir geht, aber ich finde es verdammt nochmal großartig. Meine Dreißiger waren echt eine harte Zeit. Ich war total orientierungslos. Ich war nicht ich selbst, ich war kein guter Partner. Ich habe die ganze Zeit gedacht: was zum Teufel ist mein Problem? Und ich war depressiv und all das. Aber ich habe weiter gearbeitet und weiter gelebt, hatte eine gute Zeit und habe das Leben genossen so gut ich konnte. Und ich habe immer versucht, anderen zu helfen. Jetzt, in meinen Vierzigern, habe ich das Gefühl, dass ich ganz anders durchatmen kann.“
Das erinnert mich an einen Song von Broken Social Scene, „Old Dead Young“. Jugend, Alter, Tod – es ist alles Teil des Lebens, oder? Und wenn man Kevin Drew fragt, dann braucht man nur den richtigen Soundtrack dazu. Musik hilft einem immer, über die Runden zu kommen.