So viel Erfolg in der Musikindustrie hängt vom Glück ab oder, um es prosaischer auszudrücken, davon, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Für die walisische Elektrokünstlerin Kelly Lee Owens scheint dieser Ort und Zeitpunkt genau jetzt zu sein. Sie wird von Pop-Megastar Charli xcx gemanagt und ist beim neuen „it“-Label dh2 unter Vertrag, dem elektronischen Ableger von Dirty Hit, gegründet von xcx’s Verlobtem und gelegentlichem DJ-Partner George Daniel (auch Schlagzeuger und kreativer Kopf von The 1975). Owens wurde in diesem Jahr in den Strudel des Brat Summer hineingezogen. Sie spielte bei xcx’s viralem Partygirl Ibiza und trat zusammen mit Daniel und xcx bei einer Reihe von Veranstaltungen zur Einführung von dh2 auf, wo sie einige Tracks aus „Dreamstate“ präsentierte. Dieser Wirbel an Aktivitäten hat zu einem spürbaren Buzz um die Veröffentlichung des Albums geführt, dem ersten vollständigen dh2-Release. Owens wurde im Rolling Stone Magazin porträtiert und von anderen Musikmedien als das nächste große Ding gehandelt.
Die Wahrheit über Glück ist, dass es in Wirklichkeit viel harte Arbeit und Zeit braucht, um sein Ziel zu erreichen. Owens ist sich dessen sehr bewusst. Nachdem sie ihre Jugend damit verbracht hatte, zunächst als Hilfskrankenschwester auf Krebsstationen und dann in Londoner Plattenläden zu arbeiten, in Indie-Bands zu spielen und mit Persönlichkeiten wie dem Foals-Frontmann Yannis Philipakis und Jack Steadman von Bombay Bicycle Club herumzuhängen, hat sie in den letzten sieben Jahren einen beneidenswerten Ruf bei Musikkritikern und eine nischige, aber treue Fangemeinde aufgebaut. Sie hat sogar darüber gewitzelt, dass ihr markantes, schwarzes, gewelltes Bob-Haar der „Rachel-Haarschnitt“ der Indie-Szene ist. Jedes ihrer drei vorherigen Alben, einschließlich „Inner Song“ von 2020 und „LP8“ von 2022, erhielten begeisterte Kritiken. Sie schrieb die Titelmelodie für die FIFA Frauen-Weltmeisterschaft 2023, die bei der Eröffnungsfeier und bei jedem folgenden Spiel aufgeführt wurde, und war im letzten Jahr in den USA im Vorprogramm für Depeche Mode vor Tausenden von Menschen zu sehen. All das bedeutet, dass Kelly Lee Owens vielleicht die größte Künstlerin ist, von der man noch nie gehört hat.
Kelly Lee Owens ist jedoch nicht für leere Selbstbeweihräucherung oder dafür bekannt, dass sie ihre Verbindungen ausnutzt. Sie war schon immer unabhängig in ihrem kreativen Prozess, schrieb und produzierte größtenteils ihre Alben alleine. Ihre Musik ist stark genug, um für sich selbst zu sprechen, aber selbst das ist noch keine Garantie für Erfolg. Nichts ist garantiert, wie George Daniel offen zu ihr sagte, als sie letztes Jahr zu dh2 wechselte. In Anbetracht all dessen ist es besonders ermutigend zu beobachten, wie Owens‘ Stern mit ihrem vierten und stärksten Album aufsteigt.
Abgesehen davon, dass „Dreamstate“ als ihr eigener Beitrag zum Brat Summer veröffentlicht wurde, profitiert es davon, dass elektronische Musik aktuell wieder König ist (oder treffender gesagt Königin, angesichts der zahlreichen cluborientierten Platten von Frauen in diesem Jahr) und die Klänge und Ästhetik der späten 90er und frühen 2000er Jahre ein Revival erleben.Owens hat schon lange die Dance orientierten Acts als wichtige Einflüsse zitiert, die diese Periode in der Musikgeschichte dominierten – The Chemical Brothers, Björk, „Kid A“-Ära Radiohead, „Ray of Light“-Ära Madonna. Jedes ihrer Alben hat verschiedene Bereiche der elektronischen Musik erkundet. Aber auf „Dreamstate“ bewegt sie sich voll und ganz dorthin, wo sie anscheinend wirklich hingehört: an den Ort, an dem Techno auf Dream-Pop trifft. Es ist eine Art Konzeptalbum, dessen Titel von Owens‘ eigener Erfahrung der Transzendenz und des höchsten Glückszustands durch den Traumzustand stammt. Musik war für sie schon immer “eine direkte Tür”, um darauf zuzugreifen, und das Album repräsentiert ihre Rückgewinnung der “Teile von mir, die zuvor beschämt wurden: es ist abwertend, als Tagträumerin bezeichnet zu werden”.
Das Ergebnis ist ein straffes Album mit zehn transzendenten, hypnotischen Songs, die von Owens‘ ätherischer Stimme getragen werden, die dieselbe emotionale Wucht hat wie Tracey Thorn oder Hannah Reid von London Grammar. Owens schätzt die Ehrerbietung, die ihr Heimatland Wales der Stimme entgegenbringt; einer der Faktoren, die sie zu einer herausragenden elektronischen Künstlerin machen, ist, dass sie, wie zum Beispiel Fred again, ihre eigene, unverwechselbare Gesangsstimme in ihre Musik einbringt. Sie ist in der Lage, sowohl als Sängerin als auch als DJ das Publikum in ihren Bann zu ziehen. Ihre Vorliebe für reduzierte Produktion kommt Kelly Lee Owens ebenfalls zugute. Im Gegensatz zu einigen elektronischen Künstler*innen und Produzent*innen weiß sie instinktiv, dass man nicht jedes Plug-in verwenden oder eine Fülle von Samples in einen Track werfen muss, um Energie aufzubauen oder emotionale Resonanz zu verleihen. Es reicht oft schon aus, das Tempo oder einen Bass-Drop im entscheidenden Moment anzupassen, um einen in eine völlig andere emotionale Landschaft zu versetzen, und „Dreamstate“ bietet hier eine Meisterklasse.
Die beiden musikalischen Eckpfeiler von „Dreamstate“ sind die zweite Single „Sunshine“, ein Stück euphorischer Techno, das fast schon EDM ist und das Owens bereits 2020 geschrieben, aber zurückgestellt hatte, weil sie besorgt war, dass es vielleicht zu weit ging. Außerdem der erhebende, meditative Synth-Track „Ballad (In the End)“, der 2022 geschrieben und gemeinsam mit Tom Rowlands von The Chemical Brothers produziert wurde. Die anderen acht Tracks des Albums kreisen um diese beiden. Der fast sechsminütige Titeltrack ist beinah lautmalerisch und kombiniert einen Techno-Beat, der allmählich an Intensität gewinnt, mit Owens‘ transzendenter Stimme, was eine brillante Wirkung erzielt. Die Lead-Single „Love You Got“ ist ein euphorischer Techno-Dancefloor-Klassiker. „Higher“ kommt dem Pop sowohl klanglich als auch strukturell am nächsten, während die entspannteren Töne von „Rise“ wie das musikalische Äquivalent eines Mojitos auf der Terrasse eines Ibiza-Clubs klingen.
Tatsächlich spielt sich „Dreamstate“ wie eine Nacht in einem Lieblingsclub ab, jeder Song bringt einen höher und höher auf der Suche nach diesem euphorischen Zustand, den elektronische Tanzmusik in uns hervorrufen kann. Das erstaunliche, symphonische „Trust and Desire“, dessen keltische Klänge und Chorharmonien an Owens‘ walisische Wurzeln erinnern, bringt uns zurück in den Moment. Die Texte scheinen fast ihre eigene künstlerische Reise vorwegzunehmen, indem sie anerkennt, dass einige Dinge im Leben außerhalb unserer Kontrolle liegen: “Die Zeit liegt nicht in meiner Hand. Ich wünschte, ich könnte sehen, was sein wird.”
Letztendlich bleibt das Gefühl, dass, so stark „Dreamstate“ auch ist, das, was Kelly Lee Owens als Nächstes tut, das Interessanteste von allem sein könnte. Sie könnte der nächste große Crossover-Star der Popmusik werden. Sie könnte die nächste Superstar-DJ der Welt werden. Sie könnte aber auch eine völlig andere Richtung einschlagen. Aber was auch immer sie tut, können Sie sicher sein, dass sie fest am Steuer sitzt, die Richtung vorgibt und jeden Moment genießt.
Der Artikel ist ursprünglich auf Englisch erschienen und wurde ins Deutsche übersetzt. Die Originalversion findet ihr hier.