Kammerspiel im Canyon: „127 Hours“

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Im April 2003 verunglückte der Bergsteiger Aron Ralston in einer schmalen Felsspalte des Blue John Canyon in Utah. Beim Absteigen in den Slot löste sich ein 360 Kilo schwere Felsbrocken und quetschte seinen rechten Arm zwischen Wand und Bolder ein. Er beschrieb den Vorfall als Überlebenskampf und existenzielle Krise. 127 Stunde ausharren, zweifeln, kämpfen – und letztlich gibt es nur einen Ausweg.

Eine spannende Geschichte, aber wie diese in einen dramatischen und faszinierenden Film umwandeln? Eine Geschichte von Gefangenschaft und Eintönigkeit. Wie einen unbeweglichen Protagonisten als Held eines Motion-Pictures darstellen?

Danny Boyle, der mit seinem Underdog-Drama „Slumdog Millionaire“ der Überraschungssieger bei den Oscars 2008 war, hat zwei grundlegende Entscheidungen richtig getroffen. Er vertraut einem jungen, talentierten James Franco, dessen spielerische Energie fesselt. Darüber hinaus überlässt er zwei begabten Kammermänner das Feld an einem der schönsten Plätze der Erde. Dank dieser innovativen Bilderarbeitung sitzt man als Betrachter von Anfang an dem tragischen Helden im Nacken und ist an dem auf und ab seiner Gemütslage direkt beteiligt.

James Francos knalltütenmäßige Energie verbindet den Zuschauer augenblicklich mit dem Naturliebhaber. Facettenreich und nuanciert spielend, trumpft der Oscar-Nominierte auf. Mal cool und clever, wenn er für zwei Mädels den Sunnyboy-Guide gibt. Dann wieder der verzweifelte Einzelkämpfer, als er zwischen Stein und Wand klemmt.

Obwohl Aron reflektiert, wie er in diese missliche Lage gekommen ist, kommt der Film mit erstaunlich wenig Rückblenden aus. Aron ist ein natürlicher und permanent zu Witzen aufgelegter Kumpeltyp, der seine Misere mit einer kleinen Videokamera aufzeichnet und sarkastisch kommentiert. So gibt es immer wieder tragikomische Augenblicke, die dem Film an Härte nehmen, ihn auflockern. Als er über die Fehler sinniert, die ihn in diese Lage gebracht haben – insbesondere das Versäumnis irgendjemandem zu erzählen, wohin er gegangen ist – findet er ein Wort, um das alles zu bündeln: „Oops“.

127_2Erstmals in der Geschichte des Films sind zwei Kameramänner (Enrique Chediak und Anthony Dod Mantle)  an einem Projekt beteiligt und liefern jeweils mit drei Kameras – traditionelle Filmkamera, Digitalkamera und Fotokamera – die Bilder. Aus dieser ungewöhnlichen Bildervielfalt entsteht ein ergreifender Synergieeffekt, der einen augenblicklich gefangen nimmt. Die beiden Kameramänner schießen wunderschöne, starke Aufnahmen, die einem das Gefühl einer großen Reise geben, obwohl sich der Film auf nicht mehr als einigen Zentimetern bewegt. Für gute anderthalb Stunden ist die schmale Trennlinie zwischen Leinwand und Audienz aufgehoben. Es gelingt ihnen, die Torturen und  die Eintönigkeit darzustellen, ohne den Zuschauer durch 127 Stunden zu treiben, respektive zu quälen. Obwohl im Kern einfach und schlicht, entfaltet der Film dadurch Energie und Tempo, die ihn vorantreiben.

Danny Boyle hat über „Slumdog Milionarie“ gesagt, dass „es heißt, der Film sei so erfolgreich, weil die Menschen heutzutage Märchen besonders brauchen, in denen einer dem Elend durch persönliche Leistung entrinnt.“ Mit unablässigem Elan knöpft sich der Engländer schmerzvolle und unangenehme Themen vor. Ähnlich wie in Sean Penns „Into The Wild“ dreht sich alles um einen Mann, der sein Schicksal in der Wildnis findet. Eine ebenso faszinierendere, rigorose und egoistische Persönlichkeit, die das wahre Leben in der Natur zu sehen meint.

Penns und Boyles Filmfiguren sind sich nicht unähnlich. Asketisch werden sie immer weiter – weg von der Zivilisation – getrieben. Der Unterschied liegt im Ende. Emile Hirsch findet ein mehr zufälliges Martyrium in der Wildnis. Aron ist besser vorbereitet, angepasster, schwerer zu fassen. Er konzentriert sich stattdessen auf seine körperlichen und nicht auf seine geistigen Zustände. Die als halluzinogenen Sinnestäuschungen erscheinende Ex-Freundin, Eltern oder Freunde verstößt er nie gänzlich. Somit wird ein schockierender und drastischer Unglücksfall zu einer dramatischen, aber nachhaltigen Selbstbefreiung. „127 Hours“ ist kein Film, der nur unter die Haut geht. Er packt dich, schüttelt, rüttelt dich und lässt dich glücklich zurück, am Leben zu sein.

Gesehen von: Sebastian Schelly

„127 Hours“ kommt am 17. Februar in die deutschen Kinos.