Jehnny Beth im Interview: „Liebe ist kein festes Bild, dem wir uns anpassen müssen“

Eigentlich hätte ich Jehnny Beth Mitte März persönlich treffen sollen, sie hatte geplant nach Berlin zu kommen, um über ihr Soloalbum „To Love Is To Live“ zu sprechen. Aber dann bahnte sich die Corona-Krise an, und Jehnny Beth war gezwungen, ihre Promoreise abzusagen und die geplanten Interviews Zuhause per Telefon zu führen. Und das mir, die ich mich bei Telefoninterviews doch immer so schrecklich „awkward“ fühle! „Don’t worry, I like awkward“, versichert Jehnny mir zu Beginn und, tatsächlich, die Sache läuft.

Jehnny Beth, Frontfrau der britischen Post-Punk-Band Savages, hat mit „To Love Is To Live“ ein Album geschaffen, das gnadenlos in die Tiefe geht und jeglicher menschlicher Emotion gleichberechtigt Ausdruck verleiht. Als ich mich rechtzeitig zum Release des Albums an die Abschrift unseres Gesprächs mache, habe ich für einen Moment Sorge, es könne sich nach all den Wochen Isolation und sozialen Umbrüchen gar nicht mehr aktuell lesen. Aber offensichtlich haben wir, so wie Jehnny auf ihrem Album, über sehr universelle Themen geredet. Und in unserer Auffassung von Liebe und Romantik kristallisiert sich ein starker Konsens heraus. Es ist unglaublich erhellend und wohltuend mit jemandem zu sprechen, der das Frau sein so mutig erforscht, dabei Grenzen austestet und überschreitet wie Jehnny Beth. 

Ich muss dir als erstes sagen, ich bin so begeistert von deinem Album! Was für eine mutige Platte, sowohl klanglich als auch inhaltlich. Du gehst unglaublich in die Tiefe. Wie war das für dich?

Es war definitiv eine Reise. Ich hatte mich dafür entschieden, ein sehr persönliches Album zu machen. Dazu gehörte für mich, dass ich auch die Seiten meiner Persönlichkeit, für die ich mich schäme, nicht verstecken wollte. Ich wollte nicht nur meine guten Seiten präsentieren. Die Idee von der aus ich angefangen habe, war mehr ein Instinkt. Ich wollte die Gedanken isolieren, auf die ich nicht stolz war und die Dinge, die mich nachts wach halten. Sie sollten das Fundament des Albums bilden, darauf wollte ich aufbauen. Die Fehler, die Widersprüche, die moralischen Widersprüche, die Mehrdeutigkeit, all die Dinge, die ich mir selber schwer erklären konnte. Es sollte vor allem ein Album über Fragen werden. 

War dir von Anfang an klar, dass du diese Reise alleine gehen musstest? Also dass es ein Soloalbum werden würde? 

Ich bin sie ja nicht wirklich allein gegangen. Es ist ein sehr kollaboratives Album. Ich brauchte genau diese Leute um mich herum, um die Dinge sagen zu können, die ich sagen wollte. Auf jeden Fall wollte ich mich nicht wiederholen, nicht die gleichen Prozesse wiederholen, die ich in der Vergangenheit bereits ausprobiert hatte. Grundsätzlich habe ich versucht, alles anders zu machen. Und jedes Mal wenn ich das Gefühl hatte ich weiß was ich tue, habe ich sofort damit aufgehört (lacht). Und versucht, mich auf das Unbekannte zu konzentrieren. Wenn es einen Sound gab und einen Kontext, innerhalb dem ich meine Stimme zum ersten Mal gehört habe, habe ich versucht ihn zu verstehen und dieses Gefühl des Unbekannten zu bewahren. Ich habe gewagt, mich unwohl zu fühlen, Dinge zu berühren, an die ich mich zuvor nicht herangetraut hatte. 

Interessant wie du es beschreibst, das deckt sich mit meinem Gefühl beim Hören, dass ich das Album so mutig finde. Du bist definitiv nicht den einfachen Weg gegangen. 

Der einfache Weg interessiert mich nicht besonders. Es ist mehr… ich möchte jetzt nicht „eine Katastrophe“ sagen (lacht). Es ist ein Teil meiner Persönlichkeit, ich teile das auch mit meinem Partner Johnny Hostile. Wir sind sehr süchtig nach Veränderung, danach ein flexibles Ego zu haben und nicht an einem Ort verankert zu bleiben. Und ich glaube tief schürfende Veränderungen erfordern immer, dass man sich von einem Teil seiner selbst verabschiedet. Das tut weh! Es ist nicht besonders schön (lacht). Aber ich bin süchtig danach, es ist Teil meiner DNA. Es ist ein wunderbares Gefühl, ganz von vorne anzufangen, während niemand anders als du selbst versteht wo du eigentlich hin willst (lacht). Aber es ist natürlich auch mit Stress verbunden. Angst ist auch ein wunderbares Element. Wenn man sich ihr stellt und versucht, die Angst vor der Angst zu verlieren, dann erwartet einen eine viel größere Belohnung.

Ich kann mich mit diesem Bedürfnis nach Veränderung sehr gut identifizieren. Besonders in der heutigen Zeit. Es passieren so viele aufwühlende Dinge, die die Welt zu tiefst verändern. Ich merke es auch an den Menschen, mit denen ich mich umgebe. Ich tue mich leichter mit denen, die bereits sind, Veränderung in sich selbst zu akzeptieren und nicht zu glauben, dass man ab einem gewissen Alter der Welt als statischer, fertiger Mensch gegenüber steht. 

Ich glaube, Unsicherheit ist ein sehr interessantes Gefühl. Ich habe noch nie so viel mit Unsicherheit gearbeitet wie bei diesem Album. Sonst hatte ich immer eine sehr klare Vision und ein Ziel und habe hart daran gearbeitet, dieser Vision treu zu bleiben. Das war sehr strikt, schützend und Angst hemmend. Diesmal wollte ich genau das Gegenteil. Ich habe mich gezwungen zu akzeptieren, dass man nicht alles abschließen kann. Dass es nicht auf alles eine Antwort gibt. Auf diese Weise konnte ich Klischees vermeiden und den Prozess lebendig halten. Und was das Bedürfnis des Menschen angeht, sich nicht zu verändern: ich glaube, wir wollen eigentlich keine Freiheit. Sie macht uns Angst. Veränderung und Freiheit gehen Hand in Hand. Ich teile das Gefühl, das du beschreibst voll und ganz. 

Gab es einen Moment während der Arbeit am Album, den du besonders überraschend fandest? Wo du vielleicht dachtest verdammt, was passiert hier eigentlich gerade?

(lacht) Oh, es gab ein paar. Ich glaube, ich hatte das großes Glück von Leuten umgeben zu sein, die bereit waren, einen Teil der Verantwortung für dieses Album zu übernehmen, gemeinsam mit mir. Es gab immer diesen Moment, in dem es ihr Album war. Ich wollte es genau so. Es ging mir nicht darum, Leute einzuladen mit mir zu arbeiten und dann zu versuchen, sie zu kontrollieren. Ob Johnny Hostile, Madley Croft oder Flood, es gab immer diesen Moment, in dem sie die Verantwortung übernommen haben. Das war wunderschön. Natürlich ist es am Ende mein Werk und ich habe das letzte Wort, aber dieser Prozess der Kontrollabgabe, der war sehr wichtig für mich, fruchtbar und überraschend. Wenn ich jetzt einen exakten Moment herauspicken sollte… Johnny Hostile und ich hatten den Song „I Am“ geschrieben, es ist der erste Song auf dem Album und es war der erste, an dem Atticus Ross gearbeitet hat. Es gibt ursprüngliche Elemente die immer noch da sind, die Struktur, das Ticken der Uhr, die Kinderstimmen, die tiefer gelegte Stimme. Aber Atticus hat das alles genommen und an einen anderen Ort gebracht. Das war sehr beeindruckend. Bei „I Am“ hat er wie ein Architekt verschiedene Soundschichten kreiert, die Streicher, die Gitarre, und dabei hat er diese Intensität geschaffen, die zu meiner Stimme passt. Das hat mir viel Hoffnung gegeben. Ich wusste, ich kann das erreichen wonach ich suche, aber auf eine andere Art als sonst. Das war sehr aufregend.

Als großer IDLES Fan interessiert mich natürlich auch, wie es war mit Joe Talbot zu arbeiten. Ich liebe es, wenn die Universen von Künstlern die ich besonders schätze sich überschneiden!

Als IDLES „Brutalism“ raus gebracht haben und ich zum ersten Mal „Mother“ gehört habe… das war der beste Song, den ich seit langer Zeit gehört hatte. Ich habe Joe als Gast in meine Radioshow auf Beats1 eingeladen und wir haben uns anderthalb Stunden unterhalten. Es war sofort klar, dass wir über viele Dinge sehr ähnlich denken. Er hat mir gesagt, dass meine bisherige Arbeit für ihn eine große Inspiration war und besonders „Adore Life“ die Arbeit an „Joy As An Act Of Resistance“ sehr beeinflusst hat, die Intention dahinter, dass man gleichzeitig stark und liebevoll sein kann. Dann haben wir uns wieder gesehen, als IDLES vier Shows hintereinander in London im Electric Ballroom gespielt haben. Johnny und ich waren dort, haben uns alle vier Shows angesehen, hatten Zeit die Band auf der Bühne zu erleben, sie zu treffen und besser kennenzulernen. Auf dem Album habe ich diesen Song über Eifersucht, er heißt „How Could You“. Darin beschreibe ich die Brutalität dieses Gefühls. Ich finde, Eifersucht hat keine Integrität. Eifersüchtige Leute denken oft, dass sie im Recht sind, dass ihre Gefühle eine Berechtigung haben. Aber wenn ich eifersüchtig bin, dachte ich immer, dass mit mir etwas falsch ist. Ich hinterfrage dann weniger das Handeln der anderen Person, sondern mehr mein Bedürfnis, ihr den Kopf abzureißen. Dieses Gefühl von Gewalt in mir, das ist wahnsinnig! Ich wollte immer damit arbeiten. Der Song beschreibt also dieses Gefühl von Gewalt und diese gewalttätige Person und fragt sich, was wir dagegen tun können. Was ist die Alternative? Wie erfinden wir Beziehungen neu? Wie wiederholen wir uns nicht ständig und machen dieselben, gewaltigen Fehler? Als ich mir also den eifersüchtigen Mann vorgestellt habe, habe ich an Joe gedacht. Joe versteht die dunkle Seite seiner Seele, er ist jemand, der sich selbst sehr gut kennt. Ich dachte, er kann diese Attitüde gut verkörpern. 

Kennst du Liv Strömquist? Sie schreibt feministische Graphic Novels, und in ihrem neuesten Werk beschäftigt sie sich unter anderem damit, dass wir als Frauen von der Gesellschaft oft dazu angehalten werden, extreme Emotionen zu unterdrücken. Eine Frau, die starke Gefühle hat, wie zum Beispiel extreme Eifersucht, wird als hysterisch betrachtet. Genauso wie eine Frau, die bereit ist zu lieben, ohne das gleiche Maß an Liebe automatisch zurück zu verlangen. 

Nein, ich kenne sie nicht, aber das klingt sehr interessant! Es werden uns sehr selten Alternativen gegenüber dem aufgezeigt, was die Gesellschaft von uns erwartet. Wir sind so konditioniert, dass Weiblichkeit mit Sanftheit gleich gesetzt wird. Nicht für jeden, aber für manche ist das wie ein Gefängnis. Ich möchte es nicht beurteilen, man kann auf diese Weise vielleicht sehr glücklich sein (lacht). Aber für andere funktioniert es einfach nicht. Wir versuchen immer noch, eine glückliche Beziehung mit einem Maß an Normalität zu messen. Wir richten unsere Gefühle nach dem aus, wie man uns sagt, dass sie sein sollen. Und wir denken, dass wir wissen, was eine glückliche Beziehung benötigt. Aber stelle dir für einen Moment vor, dass Liebe vielleicht nicht nur etwas ist, das wir fühlen, sondern auch etwas, das wir lernen können. Wir verlieben uns, und trotzdem sind wir oft unglücklich (lacht). Ich glaube, meine Songs sind eher post-romantisch. Ich habe ein Problem mit Romantisierung, es geht so viel Frustration damit einher. Und Frustration kann zu Gewalt führen. Wir sind enttäuscht, wenn unsere Erfahrung von Liebe sich nicht mit dem deckt, was uns als romantisches Ideal vorgelebt wird. Liebe ist kein festes Bild, dem wir uns anpassen müssen. 

Aber sie wird uns leider von der Gesellschaft immer noch viel zu sehr als solches verkauft.

Deshalb habe ich auch oft Probleme mit Popkultur, mit Pop-Texten. Es ist 2020, wir sollten darüber hinaus sein. Wir sollten Liebe als ein bewegliches, veränderbares Wesen sehen, das wir nach unseren eigenen Wünschen gestalten können. Wir sollten uns selbst, sowie andere Leute, die das Bedürfnis haben, einer Norm zu entsprechen ermutigen, ihre eigene Form zu finden. Es gibt mehr als nur eine Art verliebt zu sein oder ein Paar zu sein. Ich glaube, Menschen tendieren dazu andere Menschen aufzugeben, wenn sie mit ihnen Kompromisse schließen müssen. Statt eine Beziehung zu hinterfragen, gehen sie in einen Kampf miteinander. Ich glaube das kommt daher, dass wir immer noch so sehr an Klischees festhalten. Vor allem an dem romantischen Klischee von der einen Person, die daher kommen und alles für uns lösen wird, die der/die perfekte Liebhaber*in/Freund*in/Ehepartner*in/Familienmitglied sein wird und jede Rolle für uns erfüllen wird. Das ist einfach unmöglich. Wir werden dazu erzogen zu denken, dass Liebe dieses eine, feste Ding ist. Aber sie kann so viel mehr sein. Man muss nur seine Fantasie benutzen.

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