Endlich habe ich sie gefunden, die rein wissenschaftliche Erklärung dafür, warum ich nach einer Jack White Show grundsätzlich nicht in den Schlaf finde: „Blaues Licht macht wach, denn es aktiviert eigene Sehzellen unter der Netzhaut, die mit einer Direktverbindung ins Gehirn ausgestattet sind“, verrät mir das Internet. Außerdem wird blaues Licht bei Lichttherapien gegen Winterdepressionen eingesetzt. Schlaflos und euphorisiert, boing! Eine wissenschaftlich erklärbare, rein physische Reaktion auf die blaue Lichtstimmung, die bei jedem Jack White Konzert herrscht.
Und ich dachte schon, es wäre die Musik! Diese vielen Songs, jeder ein Stück Lebenssoundtrack, jeden Abend ein neues Wiedersehen mit alten Freunden, manche schauen überraschender vorbei als andere. Oder apropos Freunde, vielleicht ist es auch die Freude darüber, die vielen lieb gewonnenen Menschen wieder zu treffen, aus Frankreich, den Niederlanden, Polen, Slowenien… Oder dieser Überschuss an Energie, der sich an so einem Abend über einen ergießt. Es könnte aber auch, und das ist am wahrscheinlichsten, einfach eine Kombination aus all dem sein.
Ein paar Tage bevor ich nach Warschau fahre für den Auftakt des zweiten Teils meiner persönlichen Jack White „Boarding House Reach“ Tour, sage ich zu einer Freundin: „Es wird dringend wieder Zeit.“ Und sie schmunzelt: „Klar, es ist ja auch schon wirklich sehr lange her.“ Meint sie das etwa ironisch? Immerhin ist mein letztes Jack White Konzert zu dem Zeitpunkt schon ganze drei Monate her. Der Herbst hält Einzug, die Füße und die Seele fangen an zu zappeln. Die Route meiner Herbsttour: Warschau – Berlin – München – Dortmund. In Warschau war ich noch nie, und dass ein Heimspiel dabei ist, freut mich besonders. Immerhin ist es inzwischen mehr als sechs Jahre her, dass Jack zuletzt in Berlin gespielt hat. Also beginne ich den gepflegten Wahnsinn mit einer Zugfahrt nach Warschau.
Zu Polen hat Jack White eine besondere Beziehung, seine Mutter und somit auch er haben polnische Wurzeln. Seine vergangenen Auftritte dort beim Open’er Festival in Gdynia (wo er bereits mit all seinen Bands, den White Stripes, The Raconteurs, The Dead Weather sowie solo zu Gast war) gelten als legendär. In London haben mir im Sommer zwei freundliche Damen vom polnischen Jack White Fan Club erklärt, wie die polnische Ticketseite funktioniert. Der geneigte Leser dürfte inzwischen wissen dass es nicht viel mehr bedarf, um mich in die richtige Richtung zu schubsen. In diesem Fall in Richtung Warschau.
Und tatsächlich, der Ausflug nach Polen wird ein echtes Highlight. Warschau zeigt sich von seiner herbstlich sonnigen Seite und Jack sich in Topform. Als Überraschungsgast hat er seine Mutter Teresa Gillis dabei, die einen Tag vor dem Konzert ihren 88. Geburtstag feierte. Sie darf auf einem Ehrenplatz an der Seite der Bühne beim Gitarrentechniker (Guitar Guy! Wer erinnert sich?) sitzen und wird von Jack zu einem Ständchen auf die Bühne geholt. In Polen singt man „Sto Lat“, was gefühlt jeder im Publikum beherrscht, außer die beiden deutschen Ladies erste Reihe Mitte. Wir tun einfach so und genießen diesen wirklich bezaubernden Moment. Im Anschluss widmet Jack ihr ihren Lieblingssong „Apple Blossom“, dessen Ende er modifiziert: „I think I’ll marry a girl like you.“ Besonders macht diesen Abend auch, dass das polnische Publikum mit das beste ist, das ich auf der Tour erlebt habe: begeistert, energetisch und gleichzeitig angenehm friedlich. Es trägt Jack auf Händen und liegt ihm gleichzeitig zu Füßen. Und die Liebe beruht auf Gegenseitigkeit. Er fühlt sich wohl, er strotzt nur so vor Energie. Teresa Gillis wacht über all das mit sanft wippendem Kopf, zu „Humoresque“ steht sie auf und wiegt sich in den Hüften, zu „Seven Nation Army“ tanzt sie sogar und klatscht im Takt. Es ist offensichtlich, dass Mutti eine stärkere Affinität zu den melodiöseren Nummern hat. Wenn es so richtig kracht, wacht sie mit gestrengem Blick über das Geschehen. Eine weichgespülte Show liefert Sohnemann deshalb trotzdem nicht – der Junge hat, als jüngstes von zehn Kindern, offensichtlich gelernt, sein eigenes Ding zu machen.
Zwei Tage später: Berlin! Zur Abwechslung muss ich mich nicht in den Zug oder den Flieger setzen, heute wird mir Jack quasi vor die Haustür geliefert. Richtig nervös bin ich. Wie wird es ihm bei uns wohl gefallen, nachdem ich ihn nun schon an so tollen Orten wie dem L’Olympia in Paris und dem Eventim Apollo in London gesehen habe.? Außerdem wird ihm in Berlin die eher zweifelhafte Ehre zuteil, als erster Künstler die Verti Music Hall einzuweihen. Die neu errichtete kleine Schwester der Mercedes Benz Arena soll das Herzstück eines Entertainment Viertels sein, das uncharmanter und plumper kaum daher kommen könnte. Zu Getränken in riesigen Wegwerf-Humpen werden hier am Tresen Nachos und Popkorn gereicht (ich erheitere mich für einen Augenblick mit der Vorstellung was passieren würde, wenn man mir während eines Jack White Konzerts eine Tüte Popcorn in die Hand drücken würde). Umso glücklicher macht es mich, dass Jack der lieblosen Mehrzweckhallen-Atmosphäre mehr als wacker trotzt. Es dauert ein bisschen, bis er und die eher zurückhaltenden Berliner miteinander warm werden, aber nach einer kurzen Anlaufphase hat man sich gegenseitig voll im Griff. Wir schrauben uns aneinander unermüdlich in die Höhe. Und die Setlist ist perfekt! Es ist außerdem ein ganz besonderer Abend, der erfüllt ist von Freundschaft, Miteinander und Liebe – das wird mir spätestens bewusst als mein Mann, sonst eher ein entspannter Bar-Steher bei Konzerten, neben mir in der ersten Reihe die Hände in die Höhe reckt.
Wie hält man diese Energie über Tage hinweg hoch? Mir zumindest zittern am nächsten Abend in München ganz schön die Knie. Und auch Jack wirkt ein bisschen so, als hätte er sich in Berlin ordentlich verausgabt. Das Publikum gleicht das aber wieder aus, 6000 Menschen sind im ausverkauften Zenith angetreten, in den ersten Reihen wird zum Teil kräftig geschubst und gepogt – München meint es ernst mit dem Rock’n Roll, fast ein bisschen verbissen wirkt das Publikum. Die Show ist etwas kürzer als in Berlin, der Unterschied von der Energie her letztendlich marginal. Jack hat sich raus geputzt mit Hosenträgern und Krawatte, auch für das letzte Deutschlandkonzert in Dortmund holt er noch einmal den schicksten Anzug raus. Im Vergleich zu den anderen Spielorten wirkt das Konzert in der Warsteiner Music Hall fast wie eine Clubshow. Die Bühne ist so klein, dass das Klavier und das zweite Schlagzeug keinen Platz darauf finden. Erfahrungsgemäß mag Jack die Enge, er zaubert zum Abschluss noch ein paar Überraschungen aus dem Hut, wie zum Beispiel den Abend mit einer richtig alten White Stripes Nummer, „When I Hear My Name“, zu eröffnen. Das tröstet darüber hinweg, dass die Dortmunder Crowd ein wenig so wirkt als würde sie den ganzen Abend darauf warten, endlich „Seven Nation Army“ geliefert zu bekommen. Beim Schlussapplaus ist Schlagzeugerin Carla Azar den Tränen nah, und auch Jack nimmt den Jubel dankbar an und wirkt, als hätte er es bei uns in Deutschland schön gefunden.
Und dann ist es vorbei, ich reise zurück nach Berlin. Im Zug bekomme ich eine Nachricht von meiner Freundin aus Paris, die im Sommer so überzeugend den „Flip-Flops-in-der-ersten-Reihe-beim-Rock-Konzert“-Look gewuppt hat und sich in den letzten Tagen Blasen in ihren Stiefeln getanzt hat:
„Yesterday, as you were with Jack, I was just waiting. In the plane. In front of Paris Airport. For 20 Minutes. Because the guy who was supposed to put the bridge between the plane and the airport was…not there. They couldn’t find him. Imagine Jack White waiting on stage. For 20 minutes. For his guitars. Because guitar guy is… not there.“
Ich muss laut lachen. Besser könnte man die Energie, die Kraft und das Tempo, mit der eine Jack White Show abläuft, nicht auf den Punkt bringen. Fakt ist: ich habe Jack White selten derart in Höchstform erlebt wie auf dieser Tour. Das ist zu einem großen Teil aber auch seiner grandiosen Band zu verdanken, die ihm kongenial hilft, sein Repertoire so umzusetzen, dass es zum Teil so gut klang wie noch nie. Und dann in dieser unfassbaren Fülle! Einige Songs, zum Beispiel „We’re Going To Be Friends“ habe ich allein in drei unterschiedlichen Versionen gehört. Diese Mischung aus Konzentration und Durchlässigkeit, mit der die Musiker auf ihn und untereinander reagieren, ist absolut einmalig. Ganz nebenbei sind alle vier (Carla Azar am Schlagzeug, Dominic Davis am Bass, Quincy McCrary und Neal Evans an den Tasten) starke, eigenständige Persönlichkeiten, die mit ihrem Charme über den Status einer Backing-Band weit hinausgehen.
Aber es ist so viel mehr als die künstlerische Perfektion, jede einzelne Show für sich so besonders gemacht macht. Die gleiche Freundin, die mich mit ihrer Nachricht so sehr zum Lachen bringt, sitzt zwei Tage zuvor neben mir im Zug nach München, als mir wieder dieser Gedanke in den Kopf schießt. Warum ich mich in diesen Tagen so beseelt, so erfüllt, so glücklich und so sentimental zugleich fühle. „Ich glaube, Jack White ist der Mensch, der es mir am erträglichsten macht, dass Prince gestorben ist,“ formuliere ich ihn. Wir sitzen im ICE, high auf Schlafentzug, Liebe und Musik und fangen an zu weinen. Und wir schämen uns keinen Moment lang dafür. Während die Leute um uns herum von A nach B reisen und die Welt sich munter weiter dreht, genießen wir unsere Existenz in diesem verrückten, wunderschönen, blauen Paralleluniversum.
Fotos: David James Swanson