Die Zeiten, in denen es als nerdig galt, Jack White sexy zu finden, sind offensichtlich vorbei. Ich erinnere mich noch gut an die irritierten Blicke meiner Freundinnen, wenn ich vor ein paar Jahren von dem Mann mit den zotteligen Haaren und den immer etwas zu eng, immer etwas zu kurz sitzenden Hosen schwärmte. Dass Jack White einer der größten lebenden Rock’n Roller unserer Zeit ist, hat spätestens seit seinem ersten Soloalbum „Blunderbuss“ auch der geschmackvolle Teil der breiten Masse begriffen. Der Erfolg des aktuellen Albums „Lazaretto“ scheint dies nur noch zu untermauern: Rekord brechende Vinyl Verkäufe, Chartspitzenpositionen in UK und USA, für die anstehenden Herbsttermine werden Hallen wie die Londoner O2 Arena gebucht. Und wenn man sich in einschlägigen sozialen Netzwerken rumtreibt, entgeht einem auch nicht, dass inzwischen auch die Frauenwelt in Verzückung gerät, wenn es um Jack White geht. „I want Jack White so bad…“ Diese und andere Liebes (oder besser Leibes?)-schwüre findet man auf Tumblr, Twitter und co heutzutage Zuhauf.
Den besonderen Reiz an Jack White machte für mich immer aus, dass er selbst von all dem immer relativ unberührt wirkte. Er trug weiter seine komischen Hüte, seine seltsam sitzenden Hosen und seine oft nicht dazu passenden Schuhe. Seine musikalischen Projekte, vor allem wenn er andere Künstler produziert, wählte er noch nie danach aus, was die Masse von ihm erwartet, sondern rein danach, worauf er persönlich Lust hat. In jüngster Zeit kam eine weitere Seite in Jack White verstärkt zum Ausdruck: eine diebische Freude, gepaart mit einem nahezu sportlichen Ehrgeiz wenn es darum geht, die Leute zu überraschen, seine Fans herauszufordern, herauszuholen aus der Gemütlichkeit vor der heimischen Musikanlage. Wieviele Extra Features kann man in ein einziges Vinyl Album packen? Wie viele verschiedene Geschwindigkeiten? Verstecktes Hologramm, das beim Abspielen sichtbar wird? Bitteschön! Wie schnell kann man eine Single produzieren, von der Aufnahme bis zum Verkauf der gepressten Single? Vier Stunden! Kein Problem, Rekord gebrochen! Während eines Interviews meinte ein Künstler neulich zu mir, Jack White würde sich selbst ständig neue Rekordkategorien ausdenken, nur um sie selber brechen zu können. Das trifft es ganz gut, finde ich. Aber ich finde, noch etwas hat sich an Jack White verändert, man kann es spüren wenn man ihn, wie ich, seit Anbeginn seiner Karriere aufmerksam beobachtet hat. Es ist ein bisschen so als hätte jemand, der ihm nahe steht und auf dessen Meinung er viel gibt, ihn eines Tages bei der Hand genommen und zu ihm gesagt: „Jack, weißt Du eigentlich, dass Du der größte lebende Rockstar bist, den wir zu Zeit auf Erden haben? Und übrigens, Dir ist schon bewusst, wie viele Frauen da draußen verrückt nach Dir sind, oder?“ Und Jack hätte leicht den Kopf geneigt, sich die Haare hinters Ohr geklemmt wie er es so gerne tut, eine Weile schweigend nachgedacht und dann gesagt: „Ach so? Na dann…“
Auf den Konzerten seiner laufenden „Lazaretto“ Tour trinkt Jack White regelmäßig Champagner aus der Flasche. Am Ende seines Sets beim diesjährigen Glastonbury Festival fiel er rücklings ins Schlagzeug und verbeugte sich danach leicht derangiert schwankend, an seine Bandkollegen geklammert. Er trägt auffallend gut sitzende Hosen und Hemden, die sich lässig um seinen Oberkörper schmiegen, der, ganz nebenbei bemerkt, auch irgendwie aussieht, als wäre man an der einen oder anderen Stelle nochmal mit dem Meißel drüber gegangen. Und er spricht! Plötzlich erzählt er halbe Romane auf der Bühne, von Elvis Presley und Abraham Lincoln, die ihn in seinem Hotelzimmer besuchen oder von der polnischen Frau, die seine Mutter ihn gebeten hat mit nach Hause zu bringen. In London bezeichnete er den Raconteurs Song „Steady As She Goes“ als einen „Christmas Radio Hit“. Nun gut, das mit dem Reden auf der Bühne üben wir nochmal, Jack.
Ansonsten gibt es eigentlich nur ein Wort, mit dem sich adäquat eine Jack White Bühnenshow im Moment beschreiben lässt: furios. Und da der Meister offensichtlich nicht plant, nach Deutschland zu kommen, packten Kate Rock und ich unsere Koffer und flogen nach London, um dem Spektakel beizuwohnen.
Vor dem Beginn des Konzertes im Eventim Apollo verdeckt ein weißer Vorhang die Bühne. Als dieser sich zu den ersten Klängen der Band öffnet, rennt Jack White nach vorne, springt auf die Monitorbox, sodass er direkt über uns thront und legt, ein brennendes Zigarillo zwischen den Lippen, ein erstes Gitarrensolo aufs Parkett. Ein Auftritt mit der Brechstange, so überraschend wie genial, so Rock’n Roll wie… ja, sexy. Die Menge schnappt gemeinsam nach Luft. Das könnte aber auch daran liegen, dass von dieser ab den ersten Minuten nicht mehr viel zu haben ist, wenn man zweite Reihe Mitte vor der Bühne steht. Alles drängt Jack White entgegen. Von hinten, von rechts, von links – Leiber werden aneinander gepresst, Schweiß paart sich mit Schweiß, Haare auf moshenden Köpfen verwickeln sich untereinander. Klingt aufregend, ist aber eigentlich einfach nur anstrengend. Fast möchte man ihn anflehen, einen Gang zurück zu fahren, aber Jack White ist dafür bekannt, dass er dem Publikum das zurück gibt, was ihm entgegen schlägt. Und so heizt er dem wild gewordenen Mob immer mehr ein, bis wir irgendwann geschlagen das Weite suchen. Aber am Rand guckt es sich auch gut zu, letztendlich sieht man fast besser, weil man nicht ständig die Haarpracht des Vordermanns in den Augen hat.
Einen guten Teil zum Sexfaktor des Abends trägt übrigens die bezaubernde Lillie Mae Riche an der Violine bei. Sie ist in der aktuellen Live Besetzung die einzig übrig gebliebene der Frauenband „The Peacocks“, die Jack vor zwei Jahren auf seiner „Blunderbuss“ Tournee begleitete und wie heiß die Dame ist, entgeht sowohl vor als auf der Bühne niemandem. Mehr als einmal bewegt Jack sich in ihre Richtung, die beiden tauschen tiefe Blicke. Und hatte er früher schon diesen wilden Hüpfschritt drauf, mit dem er sich neuerdings über die Bühne bewegt? Die schwarzen Haare fliegen in alle Richtungen, er gibt so richtig Gas. Vielleicht ist ja die Dame der Schlüssel zur neuen Ausgelassenheit, mit der Jack White sich präsentiert? Vielleicht will er ja gar nicht uns beeindrucken, sondern sie? Wer weiß. Was auch immer sie tut, sie tut es offensichtlich richtig. Denn volle zwei Stunden habe ich Jack White in all den Jahren noch nie spielen sehen. Songs aus beiden Soloalben und aus seinem umfangreichen Back-Katalog aus White Stripes, Dead Weather und Raconteurs Zeiten. Perlen wie „Hello Operator“, „Ball And Bisquit“ und „Top
Yourself“. Die Zugabe wird zum 45 Minuten langen zweiten Set. Und als er zum Finale „Seven Nation Army“ anstimmt, sind wir froh, das Moshpit rechtzeitig verlassen zu haben. Wir sind auch so bis zur absoluten Befriedigung gerockt, gerollt und angesext worden – so wie es eben nur Jack White kann.