Schließen wir einmal kurz die Augen und stellen uns den durchschnittlichen Electronic Music Artist vor – bestimmt ein Mann, oder? Wahrscheinlich ein weißer Mann. Wahrscheinlich ein Mann in den Dreißigern, Vierzigern oder älter. Sehr wahrscheinlich ein Mann in T-Shirt und Cargohose, ein bisschen wie ein Landschaftsgärtner. Jugend und gutes Aussehen spielen in der Welt der elektronischen Musik keine allzu große Rolle. Und das ist nur einer der Aspekte, die sie zu einem so positiven Schaffensraum machen. Elektronische Musik war wohl noch nie so groß wie jetzt, mit Künstlern wie Fred again, Four Tet, Skrillex und Jamie xx als Headliner auf Festivals und ausverkauften Konzerten auf der ganzen Welt. Traditionell gesehen ist es jedoch ein von Männern dominiertes Genre.
Aber, es gibt sie, die kleinen, grünen Knospen des Wandels. „Brat“ grüne Knospen, um genau zu sein. Man könnte meinen, dass das Phänomen „Brat“, das durch das karrierebestimmende Album von Charli xcx ins Leben gerufen wurde, bereits zu Tode diskutiert worden ist. Aber niemand scheint über sein vielversprechendes Vermächtnis zu sprechen: den Raum, den es für weibliche Elektronik-Künstlerinnen geschaffen hat, einen Raum, der schon lange verdient und dringend nötig ist. Charlis Text „I wanna dance to me“ aus dem viralen Hit „Club Classics“ ist kühn, selbstbewusst, laut und selbstsicher, wenn es darum geht, diesen Raum einzunehmen. Sie ist nicht gewillt, sich zurückzulehnen und bescheiden zu sein, was ihre Leistungen angeht, und das ist so erfrischend. Die gleiche Energie strahlt aus jedem von Charlis Videos, die in diesem Sommer bei ihren PARTYGIRL Clubnächten von New York über London bis Ibiza an den Decks steht, umgeben von wogenden, euphorischen Menschenmengen.
Der Brat-Sommer mag zwar vorbei sein, aber wir können uns auf einen Herbst freuen, der mit neuen elektronischen Alben von unglaublich talentierten Frauen geradezu explodiert. Noch erfreulicher ist, dass die meisten dieser aufstrebenden Talente POC Frauen oder Frauen über dreißig oder sogar beides sind, während Pop derzeit von weißen Frauen dominiert wird, die kaum Mitte zwanzig sind (Billie Eilish, Sabrina Carpenter, Chappell Roan). Für sie und viele andere Künstlerinnen, die ihnen auf den Fersen sind, könnte es daran liegen, dass die elektronische Welt die Möglichkeit bietet, nach ihren Leistungen beurteilt zu werden und nicht nach den eher oberflächlichen Attributen, mit denen die Musikindustrie normalerweise den Erfolg einschränkt.
Hier sind vier Künstlerinnen, die ihr euch diesen Herbst unbedingt anhören und live sehen solltet:
Nia Archives
Die britische Künstlerin und Produzentin Nia Archives wurde neben Charli xcx für ihr im April veröffentlichtes Debütalbum „Silence is Loud“ für den Mercury Prize nominiert. Allein das Auftauchen von zwei Elektronik-Künstlerinnen auf der Liste ist ein Beweis dafür, dass die Branche Frauen endlich ernst nimmt. Es ist nur die jüngste in einer Reihe von Auszeichnungen und Nominierungen, die Nia Archives in den letzten Jahren erhalten hat. Ihre Musik ist eine Mischung aus verschiedenen Genres, die sie selbst als „modernen Punk im Tanzsaal“ beschrieben. Die von Jungle und Drum ’n‘ Bass inspirierten Singles „Cards on the Table“ und „Unfinished Business“ sind wirbelnde, frenetische Songs mit unausweichlichen Pop-Hooks. Wie Charli hat auch Nia keine Angst, das Persönliche und Bekenntnishafte in ein Genre zu bringen, das oft als das Gegenteil charakterisiert wurde. Nia Archives tourt im November dieses Jahres durch Europa.
Kelly Lee Owens
Die Begeisterung für die walisischen Elektronik-Künstlerin und DJ Kelly Lee Owens hat sich in diesem Jahr langsam aufgebaut, und das war auch Zeit. Owens hat jetzt das „Brat“-Gütesiegel, nachdem sie im Juli auf der PARTYGIRL in Ibiza aufgelegt hat. Nachdem sie bereits drei von der Kritik gefeierte Alben veröffentlicht hat, ist die Vorfreude auf „Dreamstate“, das am 18. Oktober erscheint, groß. Es ist auch das erste Album von DH2, dem elektronisch orientierten Imprint des Labels Dirty Hit, das von The 1975 Schlagzeuger und kreativem Mastermind George Daniel geleitet wird. Die erste Single „Love You Got“ stellte Kelly Lee Owens im Juli auf der DH2-Launch-Party im Londoner Kult-Club Phonox vor und begeisterte das Publikum, darunter Daniel selbst und Charli xcx. „Love You Got“ und die anderen Leadsingles „Sunshine“ und „Higher“ zeigen Lee Owens‘ unverwechselbaren, euphorischen House-Sound, der von Electronic Artists der 90er Jahre wie Björk und den Chemical Brothers beeinflusst ist. Ihr Stern steigt rasant, aber sie steht mit beiden Beinen fest auf dem Boden, ihre Stimme ist stets authentisch: „Ich komme aus der Arbeiterklasse. Alles, was ich geschaffen habe, habe ich selbst geschaffen… ich bin sehr DIY“. Kelly Lee Owens tourt im Oktober und November durch Europa.
TSHA
Die in London lebende TSHA hat die letzten Jahre damit verbracht, ihren Ruf als nächster Electronic Superstar aufzubauen. Für ihr Debütalbum „Capricorn Sun“ erhielt sie 2022 begeisterte Kritiken, es wurde unter anderem von BBC R1 Dance zum Album des Jahres gekürt. Mit ihrer Mischung aus UK Garage, Rave und Melodic House sind TSHAs Fähigkeiten als Produzentin ebenso offensichtlich wie ihr Talent als Autorin und Künstlerin. Sie erinnert sich an ihre Anfänge, als sie in Clubs auflegte und „der einzige weibliche DJ war, der sein eigenes Equipment hatte. Die Leute lachten über mich, während ich auflegte.“ Nachdem sie 2022 bei den Music Tech Awards als Produzentin des Jahres ausgezeichnet wurde, lacht heute niemand mehr über sie. Die Powerhouse-Singles „Can’t Dance“ und „Girls“, eine Zusammenarbeit mit dem aufstrebenden Pop-Act Rose Gray, geben einen Vorgeschmack darauf, warum ihr zweites Album „Sad Girl“, das am 27. September erscheint, mit so viel Spannung erwartet wird.
The Blessed Madonna
Es scheint fast seltsam, The Blessed Madonna (mit bürgerlichem Namen Marea Stamper) als neuen Act zu bezeichnen. Denn sie veröffentlicht bereits seit über einem Jahrzehnt Musik, darunter unglaubliche Remixe für die Größten der Popmusik wie Dua Lipa, Ariana Grande und Robyn. Davor hat sie jahrelang ihre Fähigkeiten als Top-DJ verfeinert und wurde als „eine der aufregendsten Turntablists der Welt“ bezeichnet. Selbst diejenigen, die glauben, noch nie von ihr gehört zu haben, werden sie von Fred agains Track „Marea (We’ve Lost Dancing)“ kennen, der Hymne an das Leben in Covid, an Verluste und an die spirituelle Erfahrung, die durch Tanzmusik geschaffen wird und die ein Höhepunkt seiner Headline-Shows beim Reading & Leeds Festival im Sommer war. Marea ist ein so integraler Bestandteil der elektronischen Szene, dass es niemanden gibt, der dies besser in Worte fassen könnte. Mit 46 Jahren veröffentlicht sie am 11. Oktober ihr erstes Studioalbum „Godspeed“. In einer idealen Welt sollte ihr Alter keine Rolle spielen, aber wie viele Debütalben von Frauen an der Schwelle zu den 50ern, noch dazu von queeren Frauen, kann man nennen? Im Moment setzt The Blessed Madonna ihre unvergesslichen Worte aus „Marea (We’ve Lost Dancing)“ in die Tat um: „If I can live through this, what comes next will be marvellous.“ Die bisher veröffentlichten Tracks, darunter die glitzernde, energiegeladene Kylie Minogue-Kollaboration „Edge of Saturday Night“, deuten darauf hin, dass „Godspeed“ in diesem Herbst auf keinem Dancefloor fehlen wird.
Der Artikel wurde ins Deutsche übersetzt, das englische Original könnt ihr hier lesen.