Die erste Erkenntnis an diesem Morgen: auch ein Hotelzimmer schützt nicht davor, dass es von Tag zu Tag schwerer wird, die alten Knochen wieder in Schwung zu kriegen. Der Wecker reißt uns aus dem Tiefschlaf und einem Wirrwarr situationsbedingter Rock’n Roll Träume. Aber: schwächeln ist nicht! Denn auch am dritten Tag wollen wir zeitig auf dem Gelände sein um nicht zu verpassen, wie The Vaccines das Programm auf der Blue Stage eröffnen. Dafür dass Sänger Justin Young schon die ganze Woche mit einer Halsinfektion kämpft, lassen die Briten es ganz lässig aus dem Handgelenk in klassischer Indie Rock Manier krachen. Danach scheint es aber auch bei ihnen mit der Energie vorbei zu sein, die für 15 Uhr angesetzte Autogrammstunde muss ausfallen, da Youngs Stimme weiter geschont werden muss. So sitzen uns kurze Zeit später beim Interview auch Gitarrist und Gründungsmitglied Freddie Cowan und Schlagzeuger Pete Robertson gegenüber, die sich als würdiger und überaus sympathsicher „Ersatz“ erweisen. Sie erzählen von ihrer von Land zu Land unterschiedlichen Karriere – in England haben The Vaccines vor zwei Jahren bereits die Londoner O2 World als Headliner gespielt. Zwischendurch widersteht Freddie nur knapp dem Bedürfnis, alle möglichen Gegenstände (inklusive seiner eigenen Jeans) mit dem Feuerzeug abzufackeln. Etwas irritierend, aber durchaus unterhaltsam.
Die Tatsache, dass wir heute etwas entschleunigt unterwegs sind, treibt uns im Anschluss quasi in die Arme von niemand geringerem als Noel Gallagher. Hallo, Noel Gallagher?! Er führt in der Lounge direkt neben uns ein Interview und läuft uns danach nicht nur zweimal über den Weg, sondern starrt uns auch direkt an, beim zweiten Mal scheint er nur knapp dem Bedürfnis zu entgehen uns anzusprechen. Was ging in diesem Moment in ihm vor? Glaubte er uns zu kennen? Wir werden damit leben müssen, dass wir es wahrscheinlich nie erfahren werden. Aber es war ein sehr schöner Moment, für den wir uns verdientermaßen mit einer ordentlichen Portion Teenager mäßigem Gekicher belohnen.
Umso beschwingter (wie war das noch mit der Müdigkeit?) machen wir uns kurz danach auf den Weg zur Blue Stage, um Mr. Gallaghers Auftritt beizuwohnen. Lässig spielt er für uns, begleitet von den High Flying Birds, eine Mischung aus Songs seiner beiden Soloalben und natürlich auch den ein oder anderen Oasis Kracher. Ganz in schwarz, hinter seiner dunklen Sonnenbrille, gibt er sich gewohnt lässig, in seinen kurzen Zwischenansagen blitzt aber immer wieder sein trockener, britischer Humor auf. Und wer ist die schöne Frau, die ab der Hälfte der Show extatisch auf der Seitenbühne tanzt und ihn hinterher innig umarmt? Das ist doch niemand geringeres als Florence Welsh! Man weiß gar nicht so recht, wo man zuerst hinsehen soll. Ein sehr schöner, besonderer Rock’n Roll Moment.
Wesentlich weniger Verständnis für Rock’n Roll legt das Publikum an der Red Stage an den Tag, als dort etwas später The Notwist auftreten. Die Münchner Band, die optisch immer ein wenig an ein versammeltes Lehrerkollegium erinnert, stößt bei den Kids in den ersten Reihen auf großes Unverständnis. Die extra erschienenen Fans scheinen sich eher im hinteren Bereich aufzuhalten. Spätestens als die ersten anfangen, sich während des Konzerts mittendrin auf den Boden zu setzen ist klar: diese Kinder sind nicht wegen The Notwist hier. Und je näher man sie sich ansieht, umso klarer wird einem, dass hier kein Verständnis für die hoch komplexe Performance von Markus Acher und co zu erwarten ist. Gut, es muss nicht jeder jede Band auf einem derartig großen Festival gut finden. Aber was hier passiert widerspricht so völlig dem Bild des grundsätzlich sehr positiv aufgeschlossenen Publikums beim Hurricane, das wir bis jetzt hatten. Als wir den Pulk nach Ende des Konzerts fluchtartig verlassen, packt uns das dringende Bedürfnis nachzusehen, wer denn nach The Notwist die Bühne einnehmen wird – es ist Casper. Lieber Casper, es tut uns wirklich aufrichtig leid, dass Du so ein schrecklich unsympathisches Publikum hast!
Und schon nähern wir uns dem Ende… unglaublich, wie schnell die Zeit vergangen ist! Fast ein wenig melancholisch schleichen wir zurück zur Green Stage, wo gerade Madsen, die kurzfristig Ben Howard ersetzt haben, in den letzten Zügen ihrer Show liegen. Wir laufen ein wenig herum, nehmen ein letztes Mal die Atmosphäre in uns auf. Madsen sorgen für Begeisterung weit über den Radius ihres Publikums hinaus. Überall wird gesungen und durch die Gegend gesprungen. Ein Mädchen tanzt auf einer Mülltonne, die Sonne geht langsam unter. Wir stellen uns noch einmal für den Anlass in den vorderen Teil an. Wie Teil einer Herde fühlt man sich, die schwungweise nach vorne getrieben wird. Und wieder fällt uns auf, wie ruhig und freundlich die Securities dieses Prozedere durchführen und wie brav die Menge mit macht. Wir sind bereit für den allerletzten Headliner auf der Green Stage. Florence & The Machine! Für die eine von uns ist sie eine langjährige, schon oft erlebte Live-Liebe, für die andere ist es das erste Mal. Und trotzdem sind wir vom ersten Moment an beide gleichermaßen von den Socken. Florence nimmt die Bühne ein mit der hypnotischen Präsenz einer Hohepriesterin. Das Publikum ist ihr ab der ersten Handbewegung verfallen, ab den ersten Tönen ihrer kraftvollen, gleichzeitig verletzlichen Stimme sind sämtliche Herzen gebrochen. Das warme Licht ihrer Bühnenshow tut ihr übrigens dazu. Alle sind wir vereint im warmen Uterus ihrer Präsenz, ihrer Musik, der Liebe die sie für uns hat. Und immer wenn man denkt, schöner könne es kaum werden, setzt sie noch einen drauf. Bei „Shake It Out“ ernennt sie uns zu ihrem Chor, bei „Rabbit Heart“ will sie, dass jeder seinen Liebsten auf die Schultern nimmt. Was auch immer sie verlangt, wir tun es! Wie muss es erst dem Mädchen mit dem „Hug?“ Schild gehen, das tatsächlich auf die Bühne kommen darf, um sich die erbetene Umarmung abzuholen?
Es könnte kein würdigerer Abschluss sein. Florence schafft es mühelos, all den wunderbaren Erlebnissen, die wir an diesem Wochenende haben durften, die Krone aufzusetzen. Da kann uns auch unser alter Bekannter, der Regen nicht schocken, der sich dran macht, uns nach Ende dieser unglaublichen Show vom Gelände zu spülen.
Kann es noch besser werden? Beweis es uns, Hurricane! Wir freuen uns aufs nächste Mal.
Waren dabei: Gabi Rudolph & Kate Rock
Atmo-Foto (c) Christoph Eisenmenger
Foto Dancing Girl (c) Kate Rock