„Entschuldige bitte, ich habe das Gefühl, ich quatsche dich zu!“ lacht Holly Humberstone plötzlich, als wir uns über Zoom unterhalten. Wenn sie überhaupt zu viel redet, dann ist das nicht allein ihre Schuld. Ich liebe es einfach zu sehr, mich zurückzulehnen und zuzuhören, besonders wenn jemand so viel zu sagen hat wie Holly Humberstone – und das nicht allein im quantitativen Sinne. Mit gerade mal 21 Jahren hat die junge Britin erst während der Pandemie angefangen ihre Musik zu veröffentlichen, ohne die Möglichkeit, eine einzige Liveshow zu spielen. Trotzdem ist sie in den letzten 18 Monaten zu einer der aktuell hoffnungsvollsten Nachwuchskünstlerinnen avanciert, und als sie vor wenigen Wochen zurück auf die Bühnen ihrer Heimat kehrte durfte sie feststellen, dass sie inzwischen nicht nur in England, sondern auch in Amerika ihre eigenen Headline-Shows mühelos ausverkauft, dass die Leute sich früh für ihre Festival-Slots anstellen und bereits alle ihre Songs auswendig können.
Diese Art von Corona-Karrieren sind irgendwie surreal. Und einer jungen, aufstrebenden Künstlerin dabei zuzuhören, wie sie voller Zuversicht und Hoffnung für die Zukunft über ihre Musik redet, ist wirklich inspirierend. Im November erscheint ihre neue EP „The Walls Are Way Too Thin“, und auf ihr kann man deutlich hören, dass Holly Humberstone ein Händchen für eingängige Melodien hat und in ihren Songs bewundernswert ehrlich ihre Gedanken und Gefühle zum Ausdruck bringt. Vielleicht hat der ein oder andere bereits ihre Singles gehört, zum Beispiel „Haunted House“, eine emotionale Ballade über die Zeit, in der sie von Zuhause ausgezogen ist, oder das nicht weniger emotionale „Please Don’t Leave Just Yet“, das sie gemeinsam mit The 1975 Frontmann Matty Healy geschrieben hat. Vielleicht hat sich der ein oder andere dabei schon in sie verliebt, aber ich bringe sie euch gerne noch ein bisschen näher.
Als wir uns via Zoom zum Interview treffen, ist Holly ein wenig erkältet und erzählt mir, dass sie den Tag damit verbracht habe sich zu entspannen und auszuruhen. Trotzdem strotzt sie nur so vor Energie und erzählt mir begeistert wie glücklich sie ist, das tun zu können, was sie am meisten liebt.
„Ich glaube, ich sollte dich öfter anrufen. Du hörst mir so gerne zu, das ist gut für mein Ego,“ scherzt sie am Ende unserer Unterhaltung. Ach Holly, du darfst mich jederzeit anrufen!
Erzähl mir Holly, wie ist es dir ergangen in der letzten Zeit? Du hattest vielleicht einen entspannten Tag heute, aber dein Leben ist ja doch eher aufregend.
(lacht) Ja, insgesamt geht es mir wirklich gut, danke. Ich kann mich sehr glücklich schätzen. Das letzte Jahr war natürlich ein bisschen komisch, aber ich bin trotzdem sehr dankbar für alles, was im letzten Jahr passiert ist, immer noch arbeiten zu können und all diese Möglichkeiten zu haben. Ich bin so froh, dass ich das machen kann, was ich liebe, dass ich jeden Tag damit beschäftig bin. Es ist wirklich ein Segen.
Ich erinnere mich, dass du letztes Jahr mit Lewis Capaldi auf Tour warst. Das war super knapp bevor alles zugemacht hat, oder?
Ja, das war es! Ich glaube, die letzte Show die ich mit Lewis Capaldi gespielt habe, war im Wembley in London. Ich glaube, das war eine der letzten Shows in England überhaupt, bevor wegen Corona alles dicht gemacht hat. Ich bin so froh, dass ich das noch rein quetschen konnte, bevor es los ging. Diese Tour war so ein großer, großer Lernprozess für mich. Es war großartig für mein Selbstbewusstsein, das Touren und das ganze Drumherum auf diese Weise zu erleben.
Aber war das nicht brutal, so ausgebremst zu werden, als es gerade richtig für dich los ging?
Es war seltsam. Es war ziemlich hart und verwirrend. Zu dem Zeitpunkt hatte ich noch keine Musik rausgebracht. Oder, ich glaube mein erster Song kam im Februar raus und im März waren wir im Lockdown. Ich habe nie wirklich erlebt, wie eine normale Karriere aussieht. Ich habe keine Ahnung, wie ’normal‘ sich in meinem Job anfühlt. Es war ein ziemlich absurdes Jahr. Ständig diese Statistiken und Zahlen zu sehen, mit Leuten online zu kommunizieren, DMs und YouTube Kommentare zu lesen, aber nicht in der Lage sein zu einer Show zu gehen und zu sehen, dass all diese Leute wirklich existieren. Ich hatte wirklich viele gute Möglichkeiten von Zuhause aus, aber dann sitzt man halt Zuhause und erlebt alles nur durch sein Telefon. Es hat sich nicht wirklich real angefühlt, bis vor kurzem, als ich endlich meine eigenen Shows spielen und wieder auftreten konnte. Das war wirklich, wirklich bizarr aber wirklich, wirklich cool.
Ich glaube du bist die erste Künstlerin mit der ich spreche, die schon wieder richtige Konzerte gespielt hat. Du hast deine eigenen Shows gespielt und ein paar Festivals. Das hier aus Deutschland zu beobachten, fühlt sich komplett verrückt an.
Ich weiß! Ich glaube, der Grund warum wir diese Festivals haben konnten ist, dass viele Festivals sich für ein Testprogramm beworben haben, um zu sehen was passiert. Ich meine, ich weiß nicht was sie dachten was passieren würde, aber viele haben jetzt COVID wegen dieser Festivals… Es war auf jeden Fall total verrückt, auf einem Festival zu spielen, zu sehen dass die Leute wirklich zu meinem Set kommen, dass sie die Texte kennen und mitsingen und extra früh kommen, um vorne zu stehen und zu tanzen… die Atmosphäre auf einem Festival, die findest du nirgendwo anders, das ist wirklich einzigartig. Es war wirklich schön das erleben zu können. Ich hatte noch nie Festivals gespielt, und jetzt hatte ich das Glück, diesen Sommer eine ordentliche Runde zu machen. Und meine erste eigene Headliner-Show zu spielen war natürlich auch super cool. Allein der Gedanke, dass Leute sich Karten kaufen um mich zu sehen ist total seltsam. Ich war bis jetzt immer Vorband, und das hat immer Spaß gemacht. Aber das ist schon ein ganz anderer Druck, wenn die Leute Karten kaufen, weil sie dich sehen wollen… total surreal.
Bist du früher viel auf Festivals gegangen, bevor du selbst aufgetreten bist?
Oh ja! Ich bin immer gerne gegangen, und ich liebe es heute noch. Ich war erst neulich mit meiner Familie beim End of the Road Festival, ich bin dort nicht aufgetreten, einfach nur zum Spaß. Ich bin jedes Jahr mit meiner Familie dort. Ich liebe diese Festival Atmosphäre, eine Woche lang in einem Zelt wohnen und ein bisschen eklig sein (lacht). Ich liebe Livemusik. Jedes Mal, wenn ich auf einem Festival bin, komme ich mit so viel neuer Musik nach Hause, so vieles, das ich hören möchte, es ist so inspirierend. Ich habe gerade Reading und Leeds gespielt. Auf dem Leeds Festival war ich früher immer mit meinen Schulfreunden. Es war so cool dort zu spielen und in der Menge tatsächlich Leute aus meiner alten Schule zu entdecken.
Wow, das ist so cool!
Und wie! Das war ein ziemlicher „kneif mich“ Moment.
Ich muss sagen, ich bin wirklich jedes Mal beeindruckt wenn ich höre, wie junge Künstler*innen während Corona ihre Karriere starten. Ich stelle mir das so schwer vor, wenn du nicht wirklich weißt, was mit deiner Musik passieren wird und du sie nicht mit Liveshows unterstützen kannst. Es ist so gut, dass du jetzt diese Momente erleben kannst!
Es ist wirklich verrückt. Aber ich habe es ja auch nie anders kennengelernt. Ich habe ja erst angefangen Musik zu veröffentlichen, als wir schon im Lockdown waren. Ich wusste nicht wie es ist, auf Tour zu gehen, wie sich das anfühlt. Also hatte ich nicht wirklich das Gefühl, etwas zu vermissen, ich kannte die Alternative ja nicht. Aber der coole Teil ist jetzt dieser hier, jetzt da ich die Möglichkeit habe auf Tour zu gehen und wenn ich nächstes Jahr nach Europa kommen kann, was großartig wird, denn ich liebe Europa. Nächsten Monat geht es nach Amerika, da war ich noch nie. Und einige meiner Shows dort sind ausverkauft! Daumen gedrückt, dass es alles funktioniert mit Corona. Wie auch immer, bald werde ich wieder die Möglichkeit haben zu reisen und meine Musik für all die Menschen zu spielen, mit denen ich diese Verbindung habe, obwohl ich sie noch nie persönlich gesehen habe.
Wie war es, Songs zu schreiben ohne die Möglichkeit, sie vor Publikum auszuprobieren? Und wie fühlt es sich an, sie jetzt plötzlich live zu spielen?
Ich denke normalerweise würde man einen Song schreiben, ihn vor Publikum ausprobieren, sehen wie er ankommt und dann nochmal daran arbeiten, je nachdem wie die Reaktionen waren. Das war in meinem Fall ja nicht möglich. Es war seltsam, weil irgendwann musste ich mich hinsetzen und herausfinden, wie ich die Songs live spiele. Ich schreibe sie auf den Instrumenten, also kann ich sie natürlich spielen, wenn ich sie schreibe. Aber dann ist ein Song fertig und ich lege ihn zur Seite und denke über den nächsten nach. Ich hatte also wirklich vergessen, wie ich sie live spiele und musste richtig üben, um sie wieder voll zu beherrschen. Das Set zusammenzustellen war eine ganz schöne Herausforderung, nachdem ich anderthalb Jahre gar nicht gespielt hatte. Ich denke was als nächstes interessant wird, ist unveröffentlichte Songs live zu spielen und zu sehen, wie sie ankommen. Das wird bestimmt komisch. Wenn ein Song nicht gut ankommt weiß ich auf jeden Fall, dass ich ihn nicht veröffentlichen werde (lacht).
Davon abgesehen, würdest du sagen, dass diese Zeit die Entstehung deiner Songs beeinflusst hat? Erzähl mir, wie sie entstanden sind.
Den Großteil der EP habe ich vor dem Lockdown geschrieben. In der Regel bin ich von meinen Songs schnell gelangweilt, deshalb muss ich sie schreiben und dann zur Seite legen. Aber an der EP habe ich zwei Jahre lang geschrieben, zu einer Zeit, in der ich das Gefühl hatte, dass sich alles sehr schnell ändert. Und ich habe das Gefühl, dass ich sehr schnell erwachsen geworden bin. Ich fühle mich manchmal immer noch wie ein kleines Kind, das keine Verantwortung haben sollte. Damals hat sich also alles geändert. Ich bin von Zuhause ausgezogen, aus dem Haus in dem ich mein ganzes Leben lang gewohnt habe und bin nach South East London gezogen, ganz spontan, ohne dass ich vorher meine Mitbewohner getroffen, mir das Haus oder die Gegend angesehen hatte. Ich habe mich buchstäblich einfach hineingeworfen. Ich hatte nicht viele Freunde dort. Alle meine Freunde sind hier im Norden oder in verschiedenen Städten, verteilt im ganzen Land. Ich war in London komplett auf mich allein gestellt. London ist so groß und chaotisch. So viele Menschen und ich habe mich trotzdem so, so einsam gefühlt. Das hatte bestimmt auch damit zu tun wie groß die Stadt ist und dass mir das richtig Angst gemacht hat. Ich habe mich einfach von all dem weg gesperrt und viel Zeit alleine in meinem Zimmer verbracht. Mein einziger Safe Space war das Studio, dort konnte ich Songs darüber schreiben wie einsam ich mich fühle und über all die Menschen, die ich vermisse. Ich glaube, daraus ist der größte Teil der EP entstanden: einfach ins Studio zu gehen und all meine Gefühle in diese Songs zu packen. Ich glaube ich habe sie „The Walls Are Way Too Thin“ genannt, weil ich buchstäblich in einem kleinen Zimmer mit dünnen Wänden in einer kleinen Wohnung in South East London saß. Ich konnte alles hören, was außerhalb meines Zimmers vor sich ging. Aber ich glaube, es ist auch eine Metapher für das Gefühl, sich gefangen zu fühlen, einsam und auf sich selbst gestellt. Und verrückt, jetzt seitdem Corona passiert ist, haben die Songs für viele Menschen eine ganz neue Bedeutung bekommen, obwohl ich sie vor alldem geschrieben habe. Manche Menschen waren vielleicht wirklich in einem kleinen Zimmer eingesperrt, so wie ich mich gefühlt habe. So fühlt sie die EP für mich an. Ich höre sie immer noch gerne, weil die Songs wie eine Therapie für mich waren. Sie waren für mich ein Mittel, all das loszuwerden und rauszulassen. Jetzt, da ich etwas Abstand dazu habe ist es schön sie zu hören und zu wissen, wie sie mir damals geholfen haben. Vielleicht können sie jetzt, da man sie hören kann, auch anderen Menschen helfen.
Ich meine, du bist Anfang zwanzig! In dem Altern ändert sich alles so schnell. Ich finde ja, es ist ein Zeichen von starker Persönlichkeit, wenn man nicht so schnell den Bezug verliert zu Dingen, die man früher einmal gemacht hat.
Ich weiß was du meinst, und ich verstehe das total. Ein bisschen geht es mir so mit der ersten EP, die ich veröffentlicht habe. Manche der Songs sind mir ein bisschen peinlich, weil ich 17/18 war, als ich sie geschrieben habe. Ich weiß nicht… das bin nicht mehr so richtig ich. Ich liebe die Songs schon immer noch, aber ich habe nicht mehr die gleiche Verbindung, wie ich sie mit diesen Songs jetzt habe. Vielleicht liegt es daran, dass die EP bald rauskommt, ich auf Tour gehen und die Songs live spielen kann, dadurch fühle ich mich ihnen ganz anders verbunden. Ich glaube, sobald man Musik veröffentlicht, verliebt man sich ganz neu in sie. Ich lege sie also ein bisschen zur Seite und konzentriere mich erst einmal auf andere Dinge. Jetzt komme ich gerade zurück. Und vielleicht ist es auch, weil sich in diesem Jahr, in dem wir im Lockdown waren, nicht so viel verändert hat. Es war ein bisschen ein verlorenes Jahr, in dem nicht viel passiert ist und ich habe das Gefühl, dass ich immer noch an dem gleichen Punkt bin an dem ich war, als ich die Songs geschrieben habe. Vielleicht langweilen sie mich deshalb noch nicht. Ich bin wirklich froh, dass ich sie jetzt mit der Welt teilen kann. Außerdem geht es in meiner Musik um ziemlich universelle Dinge. Ich erlebe ja nichts, das besonders ungewöhnlich oder einzigartig ist. Ich glaube, die meisten Leute beschäftigen die gleichen Dinge. Die Leute können die Songs benutzen um das zu verarbeiten, was sie gerade beschäftigt. Wenn das irgendwie Sinn macht…
Das tut es! Ich habe das schon gedacht, als du erzählt hast, wie du alleine in einem kleinen Zimmer gesessen hast. Dieses Bild hat durch die Pandemie ja eine ganz neue Bedeutung bekommen.
Richtig! Und genau das ist das Coole an Musik. Solang ich offen und ehrlich bin, meine Worte ehrlich sind und ich es zulasse verletzlich zu sein, dann werden die Leute sich irgendwie mit meiner Musik verbunden fühlen. Jeder hat doch schon einmal genau das gefühlt, das ich durchgemacht habe. Wir sind alle Menschen und wir haben die gleichen Sorgen und Probleme. Besonders die Menschen in meinem Alter. Wir machen diese seltsamen Veränderungen durch, eine Zeit, in der wir junge Erwachsene sind und uns ständig fragen, was zum Teufel hier eigentlich abgeht. Wir wissen es buchstäblich nicht! Wahrscheinlich werden wir es nie rausfinden (lacht).
Foto © Phoebe Fox