Zehn Jahre ist es inzwischen her, dass ich Helgi Jonsson das erste Mal zum Interview getroffen habe. Seitdem haben wir uns in regelmäßigen Abständen immer wieder gesehen, oft gemeinsam mit seiner Lebens- und Arbeitspartnerin Tina Dico. Wir haben schon um drei Uhr morgens in Reykjavik zusammen Wodka getrunken. Das ist mit Sicherheit der Grund, warum unsere Gespräche immer ein bisschen ausarten, sowohl zeitlich als auch inhaltlich. Unsere letzte Begegnung hat eine gute Stunde gedauert und sich von der Arbeit an Helgis aktuellem Album „Intelligentle“ auf die globalen Probleme unserer Zeit verlagert. Dabei haben wir, wie immer, auch viel gelacht. Gut dass wir das immer noch können, auch wenn wir eigentlich, wie Helgi schlussfolgert, bald nicht mehr viel zu Lachen haben.
Tina und du macht gemeinsam Musik und habt inzwischen drei Kinder. Man könnte sich schon fragen, wie ihr das alles macht…
Wir kriegen viel Hilfe. Ab und zu sind wir auch Zuhause. Viel sogar. Aber letztes Jahr war wirklich heftig. Insbesondere der Herbst. Ich war in Stockholm, habe dort im Nationaltheater Theater gemacht mit Falk Richter, ab Ende Juli bis Dezember. Das war Wahnsinn. Ich kam nach Hause und Tina ist geflogen um Promo für ihr neues Album zu machen. Ich glaube über acht Wochen haben wir uns nicht mehr als ein oder zwei Tage gesehen, die wir wirklich miteinander verbracht haben. Ein oder zweimal haben wir uns am Flughafen getroffen. Einmal kurz High Five (lacht).
Unmittelbar nachdem ich dich das letzte Mal getroffen hattest, hattest du eine Herz-OP.
Das war ziemlich heftig. Nachdem wir in Potsdam gespielt hatten, waren wir in Hannover. Da bin ich einfach auf der Bühne umgekippt. Ich hatte ein Loch zwischen den Herzkammern. Das wusste ich schon seit ein oder zwei Jahren, es war auch geplant, dass man es repariert. Es ist eigentlich eine kleine Operation mit einem Katheter. Leider ist etwas schief gegangen und sie mussten einen anderen Chirurgen holen, der eine offene Herz-OP gemacht hat. Das war scary. Also nicht für mich. Ich hab ja nix mit gekriegt (lacht). Die OP hat insgesamt elf Stunden gedauert. Für Tina war das viel schlimmer. Am Ende haben sie das ganz old school zusammen genäht mit einem Stück Kuhherz. Kein Witz (lacht). Ein paar Tage später habe ich den Chirurgen getroffen und habe gewitzelt, ich bin jetzt kein Cyborg, halb Mensch, halb Maschine, sondern halb Mensch, halb Kuh (lacht).
Wie lange hat es nach der OP gedauert, bis du wieder fit warst?
Bis ich wirklich fit war sicher ein halbes Jahr. Ich war noch in der Reha, das war super. Ich habe sehr viel über mich selber gelernt. Ich würde jedem eine Herz OP empfehlen um das zu kriegen (lacht).
Als wir damals in Potsdam miteinander gesprochen haben, hat Tina gesagt, jetzt wäre es an der Zeit, dass es wieder um Helgi geht. Es klang als hättet ihr einen ziemlich guten Plan gehabt.
Hatten wir auch. Eine Version der Platte war vor zwei Jahren schon fertig, gemastert und alles. Sie hätte im März 2017 raus kommen sollen. Das war alles ziemlich gut geplant, dann kam aber eine Plattenfirma, die ich jetzt nicht nennen werde, die war interessiert das Ganze groß aufzuziehen. Die haben mich gebeten zu überlegen ob es für mich okay wäre, den Release auf August zu legen, damit ihre ganze Maschinerie das durcharbeiten kann. Das war super, aber irgendwie, irgendwann gab es Probleme und am Ende haben wir uns zurückgezogen. Dann passte das gar nicht mehr in unseren Zeitplan rein, mit meinen und Tinas gebuchten Terminen. Und so ist das Album erstmal in die Schublade gekommen. Später habe ich gedacht okay, ich habe ja diese Platte, sie ist fertig und man muss einfach „enter“ drücken. Nachdem Tinas letzte Platte fertig war, habe ich sie wieder raus genommen und plötzlich gedacht oh nein, das kann ich nicht so veröffentlichen. Es war einfach nicht mehr dort wo ich war. Ich habe sie dann ganz durcharbeiten lassen, alle Songs, bis vielleicht auf einen. Ich habe zwei Songs raus geworfen, vier neue rein genommen, alles neu gemischt und zum Teil neu arrangiert. Und plötzlich waren es siebeneinhalb Jahre, seitdem ich zuletzt eine Platte veröffentlicht hatte. Aber es macht nichts!
Mit dem was damals schief gelaufen ist hast du also inzwischen gut abgeschlossen?
Ja, absolut. Im Grunde genommen ist es vielleicht besser, weil ich dadurch die Möglichkeit hatte noch ein bisschen an der Platte zu arbeiten. Auf lange Sicht werde ich glücklicher mit ihr sein. So eine Möglichkeit hat man ja ganz selten. Dass etwas so lange liegen bleiben kann und man eine ganz andere Perspektive und mehr Kraft dadurch kriegt. Zu sehen was gut ist und das was nicht gut ist zu ändern. Normalerweise bin ich der Meinung dass man immer weiter kommen muss. Machen, raus damit und dann weiter. Aber wenn man etwas so lange liegen hat, dann ist das nochmal was anderes.
Ich finde ja die Zeit vergeht wahnsinnig schnell. Wenn ich mir Tina und dich anschaue, selbst wenn ihr erzählt dass etwas länger gedauert hat als geplant, dann staune ich immer noch, wann ihr das alles macht.
(lacht) Tinas letzte Platte ist passiert, weil wir sechs Monate nichts anderes gemacht haben. Ich habe mindestens zehn Stunden am Tag dran gesessen, auch Sonntage und Samstage, ein halbes Jahr lang. So passiert es dann. Wir können ja auch nicht zaubern (lacht). Man muss dazu sagen, dass viele von den Songs jetzt auf der Platte in der Zusammenarbeit mit Falk Richter entstanden sind, oder genutzt worden sind in diesen Theaterproduktionen. Sicher die Hälfte. Vor 2013 hatte ich noch nie am Theater gearbeitet. Das ist schon etwas Besonderes.
So eine Arbeit beeinflusst und verändert doch bestimmt dein Songwriting?
Ja! Es ist eine Gelegenheit, Material zu kreieren und ein Anlass, etwas zu machen. Dann hat man natürlich schon die Themen und die Szenarios, die man in die Musik mit rein nimmt. Mit Falk zu arbeiten ist sehr dankbar, er lässt einem viel Raum. Er kriegt von mir Musik, bevor er beginnt zu schreiben. Das ist super toll. Er lässt viel Platz für die Musik, es ist keine konventionelle Theatermusik. Dort wo ich singe, ist es wie ein Konzert, aber mit mega Produktion drum herum, mit Videos, Tänzern und Schauspielern. Er hat mir sehr geholfen, und ich glaube meine Musik passt auch sehr gut zu seinen Werken.
Was Tina und dich und eure gemeinsame Arbeit betrifft finde ich es großartig, dass ihr euch immer wieder abwechselt, wer für den anderen den Sideman, beziehungsweise die Sidewoman macht. So ein Perspektivenwechsel ist sowohl für die Zusammenarbeit als auch für die Beziehung bestimmt sehr fruchtbar.
Wir haben das Glück, dass wir gut miteinander arbeiten können. Es gibt keinen Wettbewerb zwischen uns. Das ist ja so ein Klischee, dass es bei Paaren, wenn sie in der gleichen Branche tätig sind, Spannungen gibt, wenn einer mehr Erfolg hat als der andere. Das ist bei uns gar nicht der Fall. Eigentlich genau das Gegenteil. Sie schreibt auch Texte für mich. Fast die Hälfte der Texte auf diesem Album sind von ihr. Das ist sehr gut für mich. Sie kann das wirklich so gut.
Ich habe dir ja vorhin erzählt, dass ich mich dieses Jahr in einer schwierigen Phase meines Lebens befunden habe. Vor dem Hintergrund muss ich dir sagen, dass ich dein Album als sehr schwermütig empfinde.
Aber es kann gut sein dass das widerspiegelt, wo du gerade bist. Ich glaube schon, dass man die Platte als melancholisch beurteilen kann. Sie ist wohl melancholisch, aber für mich auch irgendwie gar nicht. Das ist meine Musik, und meine Aufgabe ist es, Schönheit zu suchen und sie zu verbreiten. Die Menschen damit zu berühren. Ich werde aber immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass sie melancholisch ist.
Melancholie ist aber auch etwas Schönes.
Genau. Sie ist jetzt nicht traurig. Auf eine Art hoffe ich, dass sie trotzdem lebensbejahend ist.
Ich kann dir auf jeden Fall sagen, dass ich große Sehnsucht danach habe, wieder einmal nach Island zu kommen. Seitdem wir beide eine Nacht lang durch Reykjavik gezogen sind.
Dann nix wie hin! Leider ist Island das teuerste Land der Welt geworden, um es zu besuchen. Auf der anderen Seite haben wir zwei Millionen Touristen im Jahr auf Island. Es ist einfach zu viel! Grundsätzlich reisen die Leute viel zu viel. Es ist zu billig. Viele denken es sei ein Menschenrecht, der Umwelt schaden zu dürfen. Das Pariser Abkommen war das Beste, was wir machen können, und selbst das bedeutet eigentlich dass wir gar nichts machen. Oder kaum etwas. Wir sagen wir kommen damit zurecht, dass es nur zu zwei Grad Erwärmung kommt. Zwei Grad bedeuten bereits so viel Leiden! Das heißt wir verhandeln heute über das Leiden von Menschen, die noch nicht einmal geboren sind. Wir glauben dass es unser Recht ist auszuhandeln, dass andere leiden. Das ist ein Verbrechen gegen die Menschheit. Es ist gang und gäbe, dass die Menschen mindestens dreimal im Jahr ins Ausland fliegen. Manchmal um den halben Globus. Fleischproduktion verursacht einen Fußabdruck, der 20 Prozent all unserer Probleme bedeutet… dieses Interview geht gerade in eine andere Richtung (lacht). Aber in eine sehr bedeutungsvolle. Ich bin nicht optimistisch für die Menschheit. Es ist weit, weit zu spät um irgendwas zu machen, damit nicht unfassbare Trauer und Leid auf uns zukommen wird. Wir sind am Arsch geboren, und am Arsch werden wir sterben. Du wirst das hier ja sicher sehr zusammen kürzen müssen. Aber den Satz, den möchte ich gerne, dass du ihn drin lässt.